In der Türkei und Nordkurdistan regt sich breiter zivilgesellschaftlicher Protest gegen das drohende Verbot der Demokratischen Partei der Völker (HDP). 68 Vertretungen der Kammer der Ingenieure und Architekten (TMMOB), 49 Abteilungen des Gewerkschaftsverbandes KESK, 19 verschiedene Vereine, 17 IHD-Büros, 14 Anwaltskammern, neun Ärztekammern, sechs Industrie- und Handelskammern und drei Vertretungen öffentlicher Verwaltungsangestellter haben eine Erklärung unterzeichnet, in der sie die Abweisung der Klage der Generalstaatsanwaltschaft auf ein Verbot der HDP fordern.
Wir waren damals gegen das Verbot der AKP
In der Erklärung heißt es: „Die Türkei hat schlimme Erinnerungen an Parteiverbote. 24 politische Parteien wurden seit der Gründung des Verfassungsgerichts geschlossen. Zuletzt gab es 2008 einen Antrag auf Schließung der AKP vor dem Verfassungsgericht. Wir waren damals gegen das Verbot der AKP aufgrund unseres Glaubens an Demokratie, Recht und Pluralismus, das haben wir auch öffentlich erklärt.“
Erklärung von 2008 immer noch aktuell
Die Vereine teilen erneut ihre Erklärung vom 19. März 2008, in der sie sich gegen ein Verbot der AKP gestellt haben. Sie betonen, dass sie nicht an Aktualität verloren habe: „In Erinnerung daran, dass der wirksamste Weg zur Demokratisierung der Türkei die Reformen sind, die auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft durchgeführt werden müssen, sollte der ins Stocken geratene, rückständige Reformprozess mit Entschlossenheit neu aufgegriffen werden. Die Gesetze zu politischen Parteien sowie die Wahlgesetze sollten unverzüglich auf die Tagesordnung des Parlaments gesetzt, demokratisiert und geregelt werden, um die willkürliche, politische und unkontrollierte Schließung politischer Parteien zu verhindern. Mit der Zusammenarbeit derjenigen, die eine echte Demokratie in der Türkei wollen, sollte die Arbeit an einer neuen zivilen Verfassung so bald wie möglich beschleunigt und mit Inhalten, die auf die Lösung der grundlegenden Probleme der Türkei reagieren, angereichert werden."
Parteiverbote schwächen Demokratie und politische Institutionen
In ihrer aktuellen Erklärung schreiben die Verbände weiter: „Zweifellos sind Wahlen der wichtigste Ausdruck von Demokratie. Seit 2016 werden viele Provinzen und Distrikte in unserer Region von Gouverneuren regiert, die von der Zentralregierung als Treuhänder ernannt wurden, um gewählte Bürgermeister zu ersetzen. Die Praxis der Einsetzung von Treuhändern, die zu einer allgemeinen Realität geworden ist, hat den Glauben an die Demokratie geschwächt. Wie unsere Erfahrungen in der Vergangenheit gezeigt haben, bedeuten Parteiverbote nichts anderes als eine Schwächung der politischen Institutionen. Unser Land wird sich so weiter von den demokratischen Werten und dem Ziel einer Mitgliedschaft in der EU entfernen. Stattdessen werden Mittel außerhalb der Politik gestärkt.
Eskalierende wirtschaftliche Probleme werden verschärft
Als NGOs und Berufsorganisationen, die diese Erklärung unterzeichnet haben, sind wir davon überzeugt, dass das Verbot einer Partei und die Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Abgeordneten unserem Land nicht nützen. So werden die durch die Pandemie eskalierenden wirtschaftlichen Probleme weiter verschärft und es kommt zu weiteren Rechtsbrüchen im Bezug auf Meinungsfreiheit und Rechtsstaatlichkeit. Daher glauben wir, dass es im Interesse unseres Landes und aller unserer Bürgerinnen und Bürger liegt, den Reformen auf dem Gebiet der wirtschaftlichen, der sozialen und der Menschenrechte Priorität einzuräumen und damit aufhören, die Institution der Politik aus der Gleichung herauszudrängen.
Verfassungsgerichtshof muss Kriterien des EGMR anlegen
Was das Verbotsverfahren gegen die HDP betrifft, so sollte das Verfassungsgericht die Kriterien des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Bezug auf viele vorherige Parteiverbotsverfahren anlegen und den Antrag der Generalstaatsanwaltschaft ablehnen. Wir hoffen, dass diese Meinungen und Forderungen, mit welchen wir die Zukunft der Türkei sichern wollen, berücksichtigt werden. Wir sind gerne bereit, unsere Meinungen und Vorschläge zu wirtschaftlichen und sozialen Reformen, insbesondere im Bereich der Justiz, mitzuteilen.“