In den Städten Nordkurdistans und der Türkei demonstrierten gestern zum Antikriegstag tausende Menschen für einen gerechten Frieden, Freiheit und Menschenrechte. Unter anderem gab es in Amed (tr. Diyarbakır), Riha (Urfa), Dersim, Dîlok (Gazi Antep), Mêrdîn (Mardin) und Êlih (Batman) sowie in Ankara, Istanbul und weiteren türkischen Städten Veranstaltungen, die von Presseerklärungen und Mahnwachen bis zu Kundgebungen und Demonstrationen mit mehreren tausend Teilnehmern reichten.
Ankara: IHD zieht erschreckende Bilanz aus sieben Jahren Krieg
Der Menschenrechtsverein IHD veröffentlichte zum Weltfriedenstag eine Bilanz des Krieges für die Jahre von 2015 bis 2021. Dieser Bilanz zufolge verloren insgesamt 6.164 Menschen durch den Krieg ihr Leben, 8.807 wurden verletzt. Die Zahl der durch diese Kampfhandlungen getöteten Zivilpersonen liegt demnach bei 92, weitere 302 wurden verwundet. Auf Seiten des Staates kamen insgesamt 1.391 Dorfschützer, Angehörige von Sicherheitskräften und Soldaten zu Tode, 2.675 wurden verletzt. Im bewaffneten Widerstand fielen 2.874 Kämpfer:innen, 196 weitere wurden verletzt.
„Krieg bedeutet Niederlage, Sieg ist der Frieden“ in Êlih
Erschreckend sei auch die Bilanz der Gewalt des türkischen Staates und seiner illegalen Organisationen gegen die Zivilbevölkerung. 1.071 Zivilpersonen wurden durch illegale Hinrichtungen getötet, 1.282 erlitten bei versuchten extralegalen Tötungen teilweise schwere Verletzungen. 210 Menschen wurden bei nationalistisch oder rassistisch motivierten Angriffen ermordet, weitere 1.476 verletzt. 526 Zivilpersonen kamen durch Terroranschläge und Attentate ums Leben, etwa bei Angriffen der Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) und anderen Terrororganisationen aus dem islamistischen oder nationalistischen Spektrum. In dieser Bilanz sind die durch die grenzüberschreitenden Operationen der Türkei Getöteten oder Verletzten nicht mit einbezogen.
Frieden ist trotzdem möglich
Dennoch gäbe es die Möglichkeit zu einer dauerhaften Aussetzung der Gefechte, so Nilay Nayman vom IHD Ankara. Dafür müssten jedoch beide Seiten Verantwortung übernehmen. Unter anderem müsse die Isolation gegen den auf der Gefängnisinsel inhaftierten Abdullah Öcalan aufgehoben und ihm das Recht auch Familienbesuche und Anwaltskonsultationen gewährt werden. Des Weiteren müssten alle politischen Gefangenen freikommen, die kranken Gefangenen sollten sofort entlassen werden. Die Unterdrückung der politischen und gesellschaftlichen Opposition müsse beendet werden, die HDP als legitime politische Kraft anerkannt und die abgesetzten Bürgermeister:innen, die durch Zwangsverwalter ersetzt wurden, sollten wieder in ihr Amt zurückkehren. Erst wenn diese und weitere grundlegende Voraussetzungen erfüllt seien, könnten tatsächlich Verhandlungen über eine Lösung stattfinden, so erklärt Nilay weiter. „An einem solchen Prozess müssen alle gesellschaftlichen Kräfte beteiligt werden. Wir werden weiter das Recht des Friedens verteidigen.“
In Ankara gab es auch eine Kundgebung zum 1. September
Amed: Frieden nur durch Gleichberechtigung und paritätische Partizipation möglichen
Der Frauenverein Rosa in Amed hat zum 1. September eine Erklärung veröffentlicht, in der alle Frauen dazu aufrufen werden, sich zu organisieren und eine führende Rolle im Friedensprozess einzunehmen. „Frieden ist nur durch Gleichberechtigung und paritätische Partizipation möglich. Die Wurzel aller Probleme wird durch das patriarchale Denken in Hierarchien verursacht. Die älteste und am weitesten Verbreitete Hierarchisierung – die Ungleichstellung von Frauen und Männern – und das patriarchale System müssen darum überwunden werden, um eine wirkliche Veränderung möglich zu machen. Dabei komme vor allem die Organisierung kämpferischer Frauen, die den Wunsch zu Veränderung in sich tragen, die Schlüsselrolle im Kampf für einen gerechten Frieden zu. Ohne eine stabile und entschlossene Organisierung werden die Frauen, ebenso wie alle anderen unbewaffneten, besitz – und machtlosen Gruppen der Gesellschaft, ohne Einfluss bleiben.“
Istanbul: Kampf für Frieden und Freiheit wird von Frauen angeführt
Die Plattform für die Gleichberechtigung der Frauen (EŞİK) forderte in ihrer Presseerklärung, dass sich die Forderung nicht nur auf einen unbestimmten Begriff von Frieden oder gegen den Krieg richten sollten, sondern konkrete Themen wie die um sich greifende Militarisierung, Bewaffnung, Nationalismus, Rassismus und Sexismus ansprechen müssten. „Die Türkei ist zurzeit weltweit führend, was die kriegerische Aggression nach innen und außen betrifft, ebenso gibt es einen wahnsinnigen Anstieg der individuellen Bewaffnung, der Femizide. Ideologien, die sich als Eigentümer der Welt, des Landes und der Frauen sehen, und religiöser Fanatismus greifen um sich, was mit immer häufigeren Hassverbrechen einhergeht. Die sich immer weiter vertiefende Ungerechtigkeit und Rechtslosigkeit sorgt dafür, dass immer mehr Menschenrechtverletzungen und Gewalt gegen Frauen unbestraft bleiben. Auf der anderen Seite sehen wir aber auch, dass immer mehr Menschen begreifen, dass Frieden ein menschliches Grundbedürfnis wie Nahrung und Wasser ist.“ Krieg sei immer nur für eine Handvoll Profiteure lukrativ, die breite Masse, die Frauen und Kinder gehören immer zu den Verlierern des Krieges, so die Fraueninitiative: „Der Weltfrieden kann nur durch die Überwindung des Patriarchats und der Gleichstellung aller Geschlechter erreicht werden.“ Darum sei es elementar, dass sie der Kampf für Frieden von den Frauen angeführt werde. „Wir werden nicht auf unser Recht auf ein Leben ohne Krieg, ohne Gewalt verzichten!“
Frauen in Istanbul im Polizeikessel
Izmir: Initiative „Frauen für den Frieden“ gegründet
Bei einer Demonstration in Izmir gab die Initiative „Frauen für Frieden“ ihre Gründung bekannt. Behide Yalçın, Friedensmutter und Aktivistin, erklärte in ihrer Ansprache: „Krieg ist die Trauer der Mütter. Wir wollen die Mütter nicht mehr trauernd sehen. Wir wollen, dass die Isolation aufgehoben wird. Wenn Verhandlungen begonnen werden, wird auch Frieden möglich. Der Krieg ist ausgebrochen, nachdem die Regierung die Friedensgespräche abgebrochen hatte. Habt keine Angst vor dem Frieden. Es ist der Krieg, der den Menschen schadet. Durch den Krieg verlieren Mütter ihre Kinder, Frauen ihre Lebenspartner. Wir wollen Frieden. Das kurdische Volk will Frieden. Das kurdische Volk will die Körper seiner Verstorbenen nicht mehr in Stoffbeuteln und Pappkartons bekommen. Das hat niemand verdient, auch das kurdische Volk nicht. Wir werden den Frieden mit aller Entschlossenheit bis zuletzt verteidigen.“
Kundgebung der HDP in Bazîd (tr. Doğubayazıt)
Wir werden Teil der globalen und lokalen Friedensbewegung sein
In ihrer Gründungserklärung weist die Initiative mit Blick auf die bevorstehenden Wahlen darauf hin, dass sie es nicht schweigend hinnehmen werde, dass das Leben von Frauen und LGBTI+ Menschen für Wahlpropaganda missbraucht und als Spielball von Machtinteressen und für den Profit der Regierenden verheizt werde. „Wir werden ein Teil der globalen und lokalen Friedensbewegung sein. Wir werden überall die Frauen zusammenbringen und den Frieden auf allen Ebenen zur Sprache bringen. Wir werden auch überall die Auswirkungen der Kriegspolitik vor allem für Frauen zur Sprache bringen. Und wir werden uns mit den geflüchteten Frauen solidarisieren, um gemeinsam gegen die zu kämpfen, die die Kriege, vor denen die Frauen fliehen mussten und die die Frauen zur Zielscheibe für Nationalisten gemacht haben.“ Auch mit den Saisonarbeiter:innen, die unter widrigen Bedingungen und häufig begleitet von nationalistischen, rassistischen Attacken versuchten, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, erklärte sich die Fraueninitiative solidarisch.
Wan: Kein Frieden ohne Öcalan
Bunte und kämpferische Veranstaltungen in vielen Städten
In mehr als zwanzig Städten Nordkurdistans und der Türkei fanden Veranstaltungen zum 1. September statt. Verschiedene Bündnisse, Fraueninitiativen, Organisationen und Parteien, darunter das „Bündnis für Arbeit und Demokratie“, der Menschenrechtsverein IHD, der Verein freiheitlicher Jurist:innen (ÖHD) und weitere NGOs und Initiativen sowie politische Parteien wie die HDP und DBP hatten dazu aufgerufen, bunt und lautstark für Frieden, Demokratie, Frauenbefreiung und Menschenrechte zu demonstrieren. Mit Slogans wie „Frieden – jetzt, sofort!“ „Stoppt den Krieg – baut das freie Leben auf!“ „Frauen – Leben – Freiheit!“ „Frauen – Leben – Frieden!“ wurde ein Ende des Kriegs des türkischen Staates gegen die Kurdinnen und Kurden gefordert. Auf allen Veranstaltungen wurden auch die Auswirkungen dieses Krieges, wie Militarisierung, Flucht und Armut sowie das Erstarken von Nationalismus, Rassismus, Sexismus und die Entdemokratisierung des gesellschaftlichen Lebens thematisiert. Wirklicher Frieden sei nur zusammen mit Demokratie und Freiheit möglich. Die Aufhebung der Isolation Abdullah Öcalans und die Freilassung der politischen Gefangenen war ebenfalls eine zentrale Forderung auf vielen Veranstaltungen, die mit Rufen wie „Es lebe der Widerstand in den Gefängnissen!“ „Tausende Grüße nach Imrali!“ von den Teilnehmer:innen unterstützt wurde.
Staatliche Repression gegen den Wunsch nach Frieden und Freiheit
Der türkische Staat beantwortete die Forderung der Bevölkerung nach Frieden, Demokratie und Menschenrechten wie immer mit teils massiver Polizeirepression, wobei es auch zu mehreren Festnahmen kam. Allein in Istanbul wurden weit mehr als hundert Personen bei einer Kundgebung im Bezirk Kadıköy festgenommen. Die Polizei warf den Betroffenen vor, an einer illegalen Veranstaltung teilgenommen und damit gegen das türkische Demonstrationsgesetz verstoßen zu haben. Nach einer Nacht in Polizeihaft wurden die Festgenommenen, darunter auch mehrere Journalistinnen und Aktivistinnen der Initiative der Friedensmütter, wieder auf freien Fuß gesetzt. Für den heutigen Freitag ist noch eine Großkundgebung in Bakırköy geplant. Die Bündnisveranstaltung wird von linksdemokratischen Parteien, NGOs und Gewerkschaften wie der HDP und der EMEP, dem HDK, dem IHD sowie DISK und KESK organisiert.