Viereinhalb Jahre Haft gefordert
Der am Oberlandesgericht (OLG) Hamburg verhandelte §129b-Prozess gegen den kurdischen Aktivisten Kenan Ayaz neigt sich dem Ende entgegen. Wie das Komitee „Free Kenan“ mitteilt, wird das Urteil voraussichtlich am kommenden Montag gesprochen, sofern Ayaz sein „letztes Wort“ beenden kann. Die Initiative ruft die solidarische Öffentlichkeit zur Teilnahme an dem Prozess und einer Kundgebung auf, die im Vorfeld der Verhandlung um 8:30 Uhr vor dem OLG stattfinden soll.
Von Zypern ausgeliefert
Kenan Ayaz (offiziell Ayas) ist einer von mindestens 13 Kurden, die momentan in Deutschland nach §§129a/b StGB in Untersuchungs- oder Strafhaft sind. Er wurde im März vergangenen Jahres aufgrund eines deutschen Auslieferungsersuchens in der Republik Zypern festgenommen, wo er seit 2013 als anerkannter politischer Flüchtling lebte. In der Türkei war er insgesamt zwölf Jahre im Gefängnis, seit Juni 2023 befindet er sich im Hamburger Untersuchungsgefängnis Holstenglacis. Ihm wird vorgeworfen, von 2018 bis 2020 als PKK-Mitglied Gebiete in Deutschland verantwortlich geleitet und personelle, finanzielle und organisatorische Angelegenheiten koordiniert zu haben. Die Bundesanwaltschaft stützt sich dabei auf nicht hinterfragbare Geheimdienstinformationen und einseitig interpretierte SMS und Telefonate.
Verteidigung besteht auf Freispruch
Das von der Bundesanwaltschaft geforderte Strafmaß gegen Ayaz beträgt viereinhalb Jahre Freiheitsstrafe. Die Verteidigung plädierte auf Freispruch. Die Rechtsanwält:innen Antonia von der Behrens und Stephan Kuhn hatten im Verlauf des Prozesses erklärt, dass man den Falschen schütze, nämlich ein diktatorisches Regime. Die für Ayaz geforderte Strafe solle andere Kurd:innen abschrecken, sich in bestimmter Form zu betätigen, damit bestimmte Strukturen geschwächt beziehungsweise vernichtet werden.
„Objektiv willkürliche“ Verfolgungsermächtigung gegen die PKK
Die Erteilung der Verfolgungsermächtigung gegen die PKK durch das Bundesjustizministerium brandmarkte die Verteidigung von Kenan Ayaz als „objektiv willkürlich“, da sich nicht die PKK, sondern die Politik des türkischen Staates gegen die Grundwerte einer die Würde des Menschen achtenden staatlichen Ordnung und das friedliche Zusammenleben der Völker richte. Die Türkei sei „ein autokratischer Unrechtsstaat, der im Tatzeitraum und zuvor systematisch folterte, seine eigene Zivilbevölkerung bombardierte, mit islamistischen Terrormilizen kooperierte und mehrere völkerrechtswidrige Angriffskriege unternahm, der rechtsstaatliche Institutionen und demokratische Teilhabe insgesamt, aber insbesondere zu Lasten der Kurden systematisch zerstörte.“ Es handele sich um einen Staat, der „sich nicht scheute, das Land in einen Bürgerkrieg versinken zu lassen, um sich an der Macht zu halten“. Von der Behrens und Kuhn forderten zudem, den Kämpfer:innen der PKK müsse ein Kombattantenprivileg zugestanden und die PKK aus dem Anwendungsbereich europarechtskonformen Terrorismusstrafrechts herausgenommen werden.
Anklage hat sich nicht bestätigt
Im Übrigen habe sich die Anklage aus Sicht der Verteidigung nicht bestätigt, da es kaum ausreichende Tatsachen gäbe. Allein die Behördenzeugnisse des Bundesamtes und des Hamburger Landesamtes für Verfassungsschutz, deren Quellen nicht befragt werden konnten, würden nicht ausreichen. Zudem habe die Telekommunikationsüberwachung keine Tätigkeiten ergeben, die „typisch für PKK-Kader, wie Spendensammeln bzw. die Sammlungen überwachen, auf Webseiten zum Nachrichtenaustausch schauen, Berichte schreiben oder Anweisungen von niederländischen Nummern erhalten“ seien. Von der Behrens und Kuhn ordneten die Strafforderung des Generalbundesanwalts politisch ein. Das geforderte Strafmaß von vier Jahren und sechs Monaten sei für eine Person wie Kenan Ayaz, der massiver Verfolgung ausgesetzt gewesen sei und viele Jahre und mehrfach unschuldig in der Türkei inhaftiert war, dem keine einzige Gewalttat vorgeworfen werde und der nicht vorbestraft sei, völlig unverständlich und selbst bei Unterstellung des Anklagevorwurfes völlig unverhältnismäßig.
Ayaz: Der eigentliche Terrorist ist Erdogan
Ayaz‘ zyprischer Anwalt Efstathious C. Efstathiou warf dem Gericht und der Staatsanwaltschaft vor, „die Ausübung grundlegender Menschenrechte wie Versammlungs-, Meinungs- und Redefreiheit als terroristische Handlungen zu deklarieren“. „Wenn man jede Handlung eines angeblichen PKK-Mitglieds als Terrorismus bezeichnet, was macht man dann mit echtem Terrorismus, dessen Ziel es ist, Angst und Schrecken zu verbreiten, und warum bezeichnet man die grausamen und rechtswidrigen Handlungen des türkischen Militärs nicht als Terror?“, so Efstathiou.
Ayaz selbst hatte erklärt, er sei kein Terrorist. Erdogan sei der größte Terrorist des 21. Jahrhunderts und derjenige, der vor Gericht stehen müsste. Gemeinsam mit dem IS habe er den Nahen Osten in ein Blutbad getaucht. „Aber auf sein Verlangen prozessieren Sie gegen mich. Ich bin gezwungen, diesen historischen Zusammenhang herzustellen. Ich behaupte, die EU hat eine Doppelmoral, was die Kurden angeht“.
Die nächste Verhandlung gegen Kenan Ayaz beginnt am Montag, 2. September, um 9:30 Uhr im ersten Stock des OLG, Sievekingplatz 3, entweder im Raum 288 oder Raum 237.