Über 70.000 Tote bei Massakern 1937/38
Die Fraktionsvorsitzenden der Partei der Völker für Gleichheit und Demokratie (DEM), Gülistan Kılıç Koçyiğit und Sezai Temelli, haben im türkischen Parlament einen Antrag auf die Einsetzung einer Untersuchungskommission zum Dersim-Genozid gestellt. Ziel sei es, die historischen Hintergründe der Massaker von 1937/38 aufzuarbeiten und konkrete Schritte zur historischen Gerechtigkeit einzuleiten.
In dem Antrag kritisiert die DEM-Partei, dass die frühe Republik Türkei auf einem zentralistischen und homogenisierenden Staatsverständnis gegründet worden sei, das ethnische, kulturelle und religiöse Vielfalt weitgehend negiert habe. In diesem Kontext sei die kurdisch-alevitische Provinz Dersim (türkischer Name: Tunceli) ins Visier staatlicher Assimilationspolitik geraten.
Vorsätzlich geplanter Völkermord
Bereits in den 1920er- und 1930er-Jahren seien diverse geheime Regierungsberichte verfasst worden, die eine militärische Intervention in Dersim forderten. Der Antrag verweist auf das „Şark Islahat Planı“ von 1925, den sogenannten Reformplan für den Osten, sowie auf Berichte von hohen Beamten und Militärs, die Dersim als „Störfaktor“ bei der Errichtung eines einheitlichen Nationalstaats betrachteten.
Am 4. Mai 1937 fasste die türkische Regierung schließlich den Beschluss zur Durchführung der „Operation Züchtigung und Deportation“ gegen die Bevölkerung von Dersim. Bald darauf begann der zweitgrößte Massenmord in der Türkei nach dem Genozid an der armenischen Nation 1915. Etwa 70.000 bis 80.000 Menschen wurden von der Armee systematisch vernichtet; aus Flugzeugen bombardiert, mit Giftgas und Geschützen vergast, niedergemetzelt, verbrannt, und Zehntausende in andere Landesteile deportiert, ihre kulturelle Identität systematisch unterdrückt. Möglich waren diese Verbrechen durch das Schweigen des Auslands.
Das Schicksal von Sey Rıza
Besonderes Augenmerk legt die DEM-Fraktion in ihrem Antrag auf die Hinrichtung von Sey Rıza (auch Seyîd Riza), einer der führenden Persönlichkeiten des Dersim-Widerstands, und seines Sohnes Resik Ûşen. Die beiden wurden im November 1937 in einem Schnellverfahren zum Tode verurteilt und gehängt. Sey Rızas Alter wurde amtlich herabgesetzt, das seines Sohnes hingegen erhöht wurde, um beide am Strick zu ermorden. Die letzten Worte Sey Rızas – „Wir sind Kinder von Kerbela, wir sind schuldlos. Das ist eine Schande, ein Verbrechen“ – sind bis heute ein Symbol für das Unrecht dieser Zeit.
Symbolische Entschuldigung ohne Konsequenzen
Im Jahr 2011 entschuldigte sich der damalige Premierminister und heutige Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan im Namen des Staates für das Massaker – ein historischer Schritt. Doch konkrete Schritte zur Aufarbeitung blieben bis heute aus, kritisiert die DEM-Partei. Besonders die Dersim-Gemeinde warte bis heute auf die Öffnung staatlicher Archive, die Offenlegung von Massengräbern, Informationen über verschwundene Kinder und die Rehabilitierung der Opfer.
Forderungen der DEM-Partei
Die Abgeordneten fordern:
▪ Eine parlamentarische Untersuchungskommission zur Aufarbeitung des Genozids
▪ Die Öffnung geschlossener Archive
▪ Die Einrichtung einer unabhängigen Wahrheitskommission
▪ Die Rückgabe des historischen Namens „Dersim“
▪ Die Klärung des Verbleibs von verschwundenen Kindern
▪ Die Veröffentlichung der Grabstätten von Sey Rıza und seiner Mitstreiter
▪ Eine juristische Bewertung der Verantwortlichen im historischen Kontext
Ein Schritt zu Gerechtigkeit und Frieden
Laut Antrag sei eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nicht nur ein Akt der Gerechtigkeit gegenüber den Nachkommen der Opfer, sondern auch eine Voraussetzung für ein friedliches Zusammenleben in einer pluralistischen Türkei.