Karayılan: Die Guerilla ist nicht zu besiegen

Der türkische Staat treibt die im Nordirak geplante Operation gegen die kurdische Befreiungsbewegung voran, ist aber auf Verbündete angewiesen. Murat Karayılan (PKK) hat sich zu den Entwicklungen geäußert.

Kriegsgeschehen in Südkurdistan

Murat Karayılan hat sich als Mitglied des Exekutivrats der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) gegenüber ANF zu aktuellen Themen geäußert. Der 69-Jährige, der zugleich Oberkommandierender des zentralen Hauptquartiers der Volksverteidigungskräfte (NPG) ist, nahm dabei auch Stellung zum derzeitigen Kriegsgeschehen in Kurdistan, insbesondere im Hinblick auf die Rolle der Ankara-nahen Barzanî-Partei PDK in den türkischen Besatzungsplänen in Başûr. Wir veröffentlichen den Kommentar Karayılans in zwei Teilen:

2024 markiert das neunte Jahr eines ernsten Krieges, der in den letzten drei Jahren immer mehr ausgeweitet wurde. Dieser Krieg wird nicht nur in den Medya-Verteidigungsgebieten oder an der Başûr-Front ausgetragen, sondern auch in Bakur. Vergangenes Jahr etwa wurde der härteste Teil des Krieges dort geführt. Einen festen Platz auf der medialen Tagesordnung hat diese Tatsache aber nicht. Das liegt einerseits daran, dass sich der türkische Staat bedeckt hält und andererseits, dass wir nicht zeitnah über die Geschehnisse informiert werden. Oftmals erreichen uns Informationen mit einer Verspätung von ein oder zwei Monaten und sind somit nicht mehr aktuell. Tatsache ist jedoch, dass in allen nördlichen Provinzen und Regionen – einschließlich Dersim, Colemêrg, Mêrdîn, Garzan, Serhed, Amed und Botan – ein sehr harter Krieg ausgetragen wurde. Dabei haben wir geschätzte Freundinnen und Freunde verloren: Leyla Sorxwîn, Yaşar, Axîn Muş, Dilgeş Gûzereş, Canşêr Mako, Hêjar Zozan, Redûr Sîser. Sie alle fielen 2023. Ich gedenke ihrer und aller anderen Bakur-Gefallenen mit Respekt und Dankbarkeit.


Bekanntermaßen herrscht auch in Südkurdistan ein sehr harter Krieg. Vor allem der Widerstand an der Linie Zap-Avaşîn-Metîna fällt hier schwer ins Gewicht. Der Startschuss dieser Guerillaoffensive fiel mit der Fedai-Aktion unserer Genossen Rojhat und Erdal am 1. Oktober 2023 in Ankara. Darauf folgte ein Vorstoß im November, der zum Verlust von Andok, Ciwan, Botan und Egîd Kobanê führte, und die Offensive im Dezember, bei der Welat, Helmet, Hüseyin und Memyan gefallen sind. Die Januar-Operation wurde von den Genossen Serxwebûn und Rizgar angeführt. Der Held der Offensive im Februar war Şervan Varto, ein sehr geschätzter Weggefährte. Ihm und allen anderen Gefallenen gilt meine Verbundenheit. Wir werden das Andenken an sie bewahren. Sie repräsentieren einen Geist der Opferbereitschaft. Insgesamt blicken wir auf dreizehn Gefallene. Die Verluste des Feindes dagegen sind enorm, sie gehen in die Hunderte. Wir hatten uns bereits mehrfach dazu geäußert und auch angegeben, Waffenlager der Besatzer ausgehoben und Waffen beschlagnahmt zu haben. Mit anderen Worten: Die türkischen Mühlen mahlen nicht mehr, sie brennen, so wie unzählige unserer Dörfer, die von ihnen in Brand gesteckt wurden. Insbesondere die letzten beiden Offensiven wurden in diesem Sinne umgesetzt.

Diese Operationen haben eine klare Botschaft und Zielsetzung. Es geht nicht lediglich darum, den Feind zu töten. Die Aktionen gewähren Einblicke in die Leistungsfähigkeit der Freiheitsguerilla Kurdistans. Sie zeigen ihren Geist und Stil, wie meisterhaft sie agiert, wie kreativ und koordiniert sie vorgeht, wie sie Aktionen mit dem Zweck der Eroberung entwickelt, wie sehr sie die Technik beherrscht. Freund und Feind haben nun Kenntnis davon. Gleichzeitig haben diese Offensiven auch die Realität über die Söldner, die bezahlten Soldaten des türkischen Staates enthüllt. Es wurde anschaulich gezeigt, welche Zukunft sie erwartet, wenn sie sich an diesem Krieg beteiligen. Am wichtigsten ist aber die Sache mit der kurzen Lebensdauer, die der türkische Staat uns seit Jahren beimisst. ‚Nur noch ein Jahr, bis sie von der Bildfläche verschwinden‘ heißt es immer wieder. 2016 behauptete eine Person namens Süleyman Soylu [ehemaliger Innenminister der Türkei], dass so etwas wie die PKK im April 2017 nicht mehr existieren würde. Bedauerlicherweise müssen wir feststellen, dass es auch gewisse kurdische Organisationen gibt, die von unserer Vernichtung überzeugt sind. Dabei reicht ein Blick in die Vergangenheit aus, um festzustellen, dass sie sich irren. Seit Gründung der PKK gibt der Staat unserer Bewegung noch höchstens ein Jahr. Die Realität ist aber, dass unser Widerstand seit Jahrzehnten andauert. Es geht hier um einen Volkswiderstand. Er basiert auf einem Prinzip, er hat einen Willen und eine Kraft. Diese Tatsache widmet sich in den letzten Jahren vor allem auch die psychologische Kriegsführung noch intensiver.

Die Guerilla hat ihre Unbesiegbarkeit bewiesen

Die Aktionen, von denen ich spreche, haben die psychologische Kriegspropaganda des faschistischen AKP/MHP-Regimes in ihren Grundfesten erschüttert und seine Lügen entlarvt. Sie haben offenbart, dass die Guerilla auch an den sensibelsten Orten des Staates, etwa im Zentrum von Ankara, zuschlagen kann, wenn sie es will, oder dass sie Stützpunkte des Feindes überrennt und niederbrennt. Eine routinierte Kraft wie die Guerilla kann immer und überall treffsicher operieren, unabhängig vom Ort und Ziel. Sie trifft und gewinnt, und sie erzielt Ergebnisse. Das ist die Wahrheit. Und in diese Stärke haben wir Vertrauen. Gerade in den letzten Jahren hat unsere Stärke ein hohes Niveau erreicht. Sowohl die Spezialisierung im Kriegshandwerk als auch die Professionalisierung wurden gestärkt und der Geist der apoistischen Fedai hat sich neu entwickelt. Jede Kämpferin und jeder Kämpfer kann Aktionen wie die von Rojhat und Erdal durchführen. Dieses Wachstum des Geistes der Opferbereitschaft, die Professionalisierung der Guerilla, die technische Beherrschung von Techniken der kreativen Kriegstaktik stärken die Leistungsfähigkeit unserer Kräfte noch weiter. Wir sind uns heute noch bewusster geworden, wie wir Ergebnisse erzielen und mit welcher Doktrin wir zum Erfolg kommen. Unsere Kriegsdoktrin ist eindeutig. Wie werden wir in einer Zeit handeln, in der sich der Himmel zum Spiegelbild des Staatsterrors verwandelt hat? Auf welche Weise werden wir den menschlichen Willen, die menschliche Kreativität gegen die Technologie einsetzen? Wie werden wir eine agile, flexible Taktik entwickeln und welche Technik verwenden? Welche Methoden werden wir am Himmel, im Untergrund und auf dem Boden in Anspruch nehmen? Die Freiheitsguerilla Kurdistans hat in diesen Fragen ein gewisses Niveau erreicht. Deshalb glauben wir heute mehr denn je an den Erfolg. Mit diesen Methoden, auf der Grundlage dieser Doktrin, werden wir Ergebnisse erzielen. Natürlich müssen wir mehr Kreativität entwickeln und uns an der richtigen Linie orientieren. Mit Schärfe und Dominanz eine klare Linie verfolgen und sie in jedem Moment in die Praxis umsetzen; das ist die Strategie, auf deren Grundlage die kurdische Guerilla die befreiten Gebiete verteidigt, modernste Kriegstechnologie überwindet und ihre Unbesiegbarkeit zu Beweis stellt. Wir haben gezeigt, dass die Guerilla sich auch trotz der seit Jahren andauernden Angriffe des türkischen Staates nicht bezwingen lässt. Selbst die Drohnen, für die er sich feierte, konnten die Hoffnung des Feindes auf ein tragisches Ende der PKK nicht erfüllen. Er verfiel dem Glauben, dass seine Technik die Guerilla übermannen könnte, und baute die Propaganda entsprechend auf. Dabei ließ er außer Acht, dass wir immer wieder neue Lösungen gegen die Kriegstechnologie entwickeln und damit auch Ergebnisse erzielen. Man wird durch eigene Erfahrung entschlossener und fester. Wir wissen, was unser Ziel ist und wie wir es erreichen werden.

Der Feind ist auf Verbündete angewiesen

Bekanntlich besteht das derzeitige Regime des türkischen Staates aus einer Allianz. Dieses Bündnis aus AKP, MHP und der rassistischen Ergenekon hat ein Ziel. Was ist dieses Ziel? Es sieht in der Entwicklung des kurdischen Volkes im Nahen Osten eine Gefahr für seine eigene Existenz und will diese Gefahr beseitigen. Zu diesem Zweck soll zunächst die PKK liquidiert werden. Denn auf diese Weise würden sich im nächsten Schritt die Errungenschaften des kurdischen Volkes, sein derzeitiger Status leichter beseitigen. Die Basis dieser Strategie bildet das Projekt ‚Rückkehr zu Misak-ı Milli‘ [Territorium des zerfallenen Osmanischen Reichs], in dessen Kern Besatzung steht. Die in Ankara regierende Allianz wurde zu diesem Zweck gebildet und führt seit bald neun Jahren Krieg gegen uns. Sie hatten gehofft, die erstrebten Ziele schnell zu erreichen und sie 2023 zum hundertsten Jahrestag der Gründung der Türkei verkünden zu können. Aber sie sind gescheitert. Sie dachten tatsächlich auch, den Zap und seine Umgebung in drei Monaten zu besetzen und die gesamten Medya-Verteidigungsgebiete einnehmen zu können. Die Realität sieht allerdings so aus, dass sie seit drei Jahren im Umland des Zap feststecken. Weder gelingt es ihnen, die Region einzunehmen, noch wieder herauszukommen. Dennoch sehen sie von ihrem Plan nicht ab. Der Grund dafür ist, dass das System der Türkei durch diesen Krieg extrem geschwächt wurde, vor allem im wirtschaftlichen Bereich. Schließlich werden alle Ressourcen in den Krieg in Kurdistan investiert.

Auch aktuell werden alle politischen und diplomatischen Kanäle wieder in den Kampf gegen das kurdische Volk mobilisiert. Sie befinden sich in einem permanenten Ausnahmezustand und wollen sich mit einem finalen Schlag aus der Misere des Krieges ziehen. Sie können diesen Zustand nicht länger aufrechterhalten, vor allem auch nicht allein. Ihnen ist klar, dass sie mit der Freiheitsguerilla Kurdistans ohne die Unterstützung anderer nicht fertig werden. Im Februar 2021 war eine große Delegation aus Ankara zunächst nach Bagdad und anschließend weiter nach Hewlêr gereist, um für Zustimmung zum Krieg gegen uns zu werben. Damals hieß es noch: ‚Ihr könnt euch uns anschließen, aber auch ohne eure Hilfe ist unser Plan machbar. Unsere Technik und Soldaten reichen aus, um die PKK aus Gare zu vertreiben und all ihre Gebiete zu räumen. Im nachrichtendienstlichen Bereich solltet ihr uns aber unterstützen und politischen Beistand leisten.‘ Aus Bagdad und Hewlêr hatte es grünes Licht gegeben. Dafür spricht unter anderem, dass die Soldaten, die Gare belagerten, nicht aus der Türkei kamen, sondern aus Başîqa [Kleinstadt nordöstlich von Mosul, in der die Türkei einen großen Stützpunkt unterhält und Söldner trainiert].

Der türkische Staat hat lange geglaubt, die Fähigkeit zu besitzen, uns alleine zu besiegen. Nach drei Jahren intensivem Krieg in Başûr hat er erkannt, dass er sich geirrt hat. Deshalb sucht er nach Verbündeten, die mit ihm gegen die Guerilla, gegen die PKK kämpfen. Er fordert mehr Unterstützung von der NATO ein. Er will, dass das Militärbündnis sein Gewicht in Rojava und anderen Orten einsetzt und verlangt mehr Waffen. Gleichzeitig fordert Ankara, dass sich irakische Truppen diesem Krieg anschließen und eine gemeinsame Offensive mit dem türkischen Staat führen. Auch soll die PDK [Demokratische Partei Kurdistans] in diesen Krieg direkt einbezogen werden. Darum ging es auch beim jüngsten diplomatischen Verkehr zwischen Ankara, Bagdad und Hewlêr. Man war ebenfalls in Washington, um diese Pläne zu diskutieren. Vermutlich wird es weitere von der türkischen Seite initiierte Gesprächsrunden geben, da ihre Forderungen bislang nicht zu hundert Prozent erfüllt scheinen. Laut Medienberichten kamen Verantwortliche der Militärs und Geheimdienste zusammen, um das Thema Grenzsicherheit zu besprechen. Die Türkei legt dabei den Schwerpunkt darauf, gewisse Kräfte im Kampf gegen unsere Bewegung auf ihre Seite zu ziehen.

PDK ist Kriegspartei zugunsten der Türkei

Besonders intensive Gespräche führt der türkische Staat derzeit mit der PDK. Die äußert sich in der Regel zwar nicht zu den Inhalten ihrer Verhandlungen und Vereinbarungen mit Ankara. Dafür gibt die türkische Seite von Zeit zu Zeit Erklärungen ab, durch die sich ein eindeutiges Bild zeichnen lässt. Unsere nachrichtendienstlichen Informationen bestätigen, was hinter den Kulissen von Ankara und Hewlêr geplant wird: Die PDK will als Partei zugunsten der Türkei in den Krieg gegen die kurdische Bewegung ziehen. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Sie verlangt aber, dass entweder die YNK [Patriotische Union Kurdistans] oder der Irak mitzieht. Es geht wohl darum, dass die PDK vermeiden will, unter ihrer eigenen Flagge gegen die PKK zu kämpfen. Es käme ihr gelegener, unter dem Banner der Regionalregierung Kurdistans oder der Fahne des Iraks in den Krieg gegen unsere Bewegung zu ziehen. Daher sucht der türkische Staat Wege, mit der YNK an einen Tisch zu kommen. Diese lehnt Gespräche mit Ankara und dessen Bestrebungen aber ab. Daher gab es auch die Drohungen von Hakan Fidan [Außenminister Türkei], Yaşar Güler [Verteidigungsminister Türkei] und Erdogan gegen die YNK. Ihr Vorsitzender Bafel Talabanî hat diesen Drohungen klare Kante gezeigt.