Proteste in Russland: Tiefe Wurzeln und Probleme

In Russland finden Massenproteste statt. Der russische Aktivist Dmitry Petrov beleuchtet die Hintergründe und die Schlüsselfigur Nawalny.

Die Bilder der Massenproteste in Russland gingen um die ganze Welt. Die Ereignisse vom 23. Januar waren am massivsten. Tausende von Menschen versammelten sich auf den Straßen. Das wiederholte sich am 31. Januar, wenn auch in kleinerem Maßstab. Kleinere, aber immer noch sichtbare Aktionen fanden an dem Tag statt, an dem der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny nach Moskau zurückgekehrt war, sowie an den Tagen seiner Gerichtsverhandlungen.

Die Behörden zeigten eine harte Reaktion. Die Bereitschaftspolizei (auf Russisch OMON) setzte Stöcke, Tränengas, Schocker und Schläge ein, um den Protest zu unterdrücken. Während der Aktionstage wurden insgesamt mehr als 10.000 Menschen verhaftet. Mehrere Tausend wurden für mehrere Tage oder Wochen in Verwaltungshaft genommen. Bis heute sind etwa 90 Strafverfahren wegen „Gewaltanwendung gegen die Polizei", „Ansteckungsgefahr" und anderen Gründen eröffnet worden. Es wäre keine Übertreibung zu sagen, dass die russischen Behörden bei ihrem Kampf gegen die Demonstranten im Januar-Februar 2021 ihr autoritäres und repressives Wesen deutlich gezeigt haben.

Anarchistisches Banner in Perm: Menschen sind kein Vieh!

Die Schlüsselfigur der Proteste ist Alexej Nawalny. Er ist ein Oppositionsführer mit langjähriger Erfahrung sowie Gründer und derzeitiger Leiter der Anti-Korruptions-Stiftung. Nawalny organisierte auch das Netzwerk von „Hauptquartieren" seiner Anhänger in vielen Regionen Russlands. Die politische Position von Nawalny kann als Populismus bezeichnet werden. Er versucht, ein nationalistisches Publikum anzusprechen, indem er den Diskurs der Bekämpfung der „illegalen" Migration und der Förderung der Visaregelung mit bestimmten postsowjetischen Ländern nutzt.

Gleichzeitig griff Nawalny in die „linke" Agenda ein, indem er die Üppigkeit der herrschenden Klasse und die restriktive Rentenreform kritisierte. Im Wahlkampf 2018 versprach er, die staatliche Finanzierung des Gesundheits- und Bildungswesens zu verdoppeln, sowie den Mindestlohn zu erhöhen.

Allerdings wird Nawalny meist als liberaler Politiker interpretiert. Seine Hauptzielgruppe sind junge Menschen, die nach einem demokratischeren und „westlichen" Lebensstil streben.

Ein unmittelbarer Grund für die aktuelle politische Krise in Russland ist eine Reihe von Ereignissen, die mit Alexej Nawalny zusammenhängen. Er wurde vergiftet und dann zur medizinischen Behandlung nach Deutschland geschickt. Später gab es eine Untersuchung, die besagt, dass es ein Attentat des russischen Geheimdienstes war. Am 17. Januar kehrte Nawalny nach Russland zurück und wurde sofort verhaftet. Seine Verhaftung erfolgte unter klarer Verletzung der Gerichtsverfahren. Am nächsten Tag veröffentlichten seine Kollegen den Ermittlungsfilm über den prächtigen Palast, der angeblich von Präsident Putin genutzt werden sollte. Die Kombination dieser Entwicklungen führte zu vergleichsweise massiven sozialen Unruhen und Protesten auf den Straßen.

Die tieferen Wurzeln der Proteste sind jedoch keineswegs auf Alexej Nawalny persönlich reduziert. Seit 2014 befindet sich Russland in einem Zustand der fast permanenten Verschlechterung der wirtschaftlichen Situation. Die neue Amtszeit Putins im Jahr 2018 war bald von einer Rentenreform geprägt, die eine Erhöhung des Rentenalters bedeutete. Parallel dazu nahm das Regime der persönlichen Macht des Präsidenten immer mehr Gestalt an. Die Repressionen wurden verschärft. Die Zahl der politischen Gefangenen ist drastisch gestiegen. Vergleichsweise bekannt sind die Verfolgungen von Anarchisten im Fall „Das Netzwerk" und der Fall Azat Miftakhov.

Demonstration in Izhevsk: Russische Nationalflaggen mit roten Fahnen sozialistischer Gruppen

Wie in vielen Ländern der Welt führten die Härten der Coronavirus-Epidemie mit ihren sozialen und wirtschaftlichen Folgen zu einem starken Anstieg der Massenunzufriedenheit und dann zu Ereignissen auf den Straßen.

Proteste finden entgegen den Verboten der Behörden statt. Die Anwendung von physischer Gewalt wird immer von der Polizei begonnen. Dieses Mal sehen wir jedoch einen intensiveren physischen Widerstand von Seiten der Demonstranten gegen die Polizei. Aber er hat immer noch sporadischen und seltenen Charakter. Die Demonstranten haben nicht die Bereitschaft gezeigt, die Aktionen mehr als einen Tag am Stück fortzusetzen und nicht mit dem Einbruch der Nacht zu verzweifeln.

Eine wichtige Besonderheit dieser Protestwelle ist die aktivere Teilnahme der Menschen an den Aufständen. In Großstädten wie Jekaterinburg, Wladiwostok, Irkutsk und einige andere fielen die Aktionen nicht viel geringer aus als in zentralen Städten wie Moskau und Sankt Petersburg.

Perm: Anarchistische schwarze Fahne über der Menge der Demonstranten

Das Hauptquartier von Nawalny ist das Netzwerk und der organisatorische Rahmen der Bewegung seiner Unterstützer. Diese Struktur schien der Hauptinitiator und Koordinator dieser Proteste zu sein. Allerdings ist ihre Kapazität zweifelhat. Nach zwei Wochenenden der Massenproteste erklärten die Führer der Nawalny-Bewegung das Ende der Mobilisierung.

Ihre letzte Initiative war ein Flashmob am 14. Februar: Die Menschen kamen in die Höfe ihrer Blocks in den Städten und schalteten Taschenlampen zur Unterstützung von Alexej Nawalny und anderen politischen Gefangenen ein. Das Motto des Flashmobs war „Liebe ist stärker als Angst". In verschiedenen Städten Russlands nahmen Tausende von Menschen an dieser Initiative teil.

Anarchistische und sozialistische Gruppen beteiligten sich an den Protesten. Sie waren besonders in den Städten Izhevsk, Perm und Irkutsk sichtbar. Ihre Themen waren Ungleichheit, die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit und die Freilassung von politischen Gefangenen. Einer ihrer Slogans lautet: „Nicht für Nawalny, sondern für das Volk!"

Der Höhepunkt der Proteste war am 23. Januar. Jetzt sehen wir einen deutlichen Rückgang. Gleichzeitig ist es auch offensichtlich, dass dieser Rückgang nur vorübergehend ist und neue Wellen sehr wahrscheinlich bald kommen werden. Diese Situation offenbart wieder einmal die Notwendigkeit einer organisierten politischen Bewegung, die nicht durch personalistische Tendenzen belastet ist, wie es bei Alexej Nawalny der Fall ist. Eine Bewegung, die in der Lage sein wird, die Menschen für einen entschlossenen Kampf für soziale Gerechtigkeit zu organisieren.