Mögliche Antworten auf multiple Krisen
Die Interventionistische Linke (iL) ist als eine der größten Organisationen des linksradikalen Spektrums im deutschsprachigen Raum mittlerweile fest etabliert. Angetreten vor 20 Jahren mit dem Anspruch „Raus aus der Szene, rein ins Handgemenge der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen“ ist ihr Name heute vor allem verbunden mit bundesweiten Kampagnen wie Blockupy, NoG20, Seebrücke, Ende Gelände, Deutsche Wohnen & Co. enteignen, Rheinmetall Entwaffnen und anderen. Immer wieder zeigt sich die iL auch solidarisch mit der kurdischen Freiheitsbewegung, etwa durch ‚Die Zeichen der Zeit erkennen: Rojava verteidigen – PKK-Verbot aufheben‘ oder auch jüngst bei der Kampagne Halim Dener. Mit kreativen Formen des massenhaften zivilen Ungehorsams gelang es der iL, große Bündnisse zu schmieden, die sich dann oft verselbständigt haben. Man wollte eine radikale Linke sein, „die organisiert ist und im Alltag präsent, die Gelegenheiten erkennt und entschlossen ergreift. Die kleinen Brüche zu großen ausweitet und die Wette auf eine Revolution eingeht.“
Vor vier Jahren dann begann innerhalb der iL ein Prozess der Neubesinnung. Auch weil sich die Welt(-unordnung) verändert hat, wurde das eigene Wirken hinterfragt. Welche Antworten auf die multiplen Krisen sind angemessen? Große Kampagnen oder Stadtteilarbeit an der Basis? Am Ende eines langen Ringens legte die iL Ende Juni nun ein neues Grundsatzpapier mit der Überschrift „Gegenmacht aufbauen, Gelegenheiten ergreifen“ vor und widmete sich darin den Fragen „Welche Chancen und Aufgaben für die Veränderung der Welt sehen wir? Was sind die Strategien interventionistischer Politik in der aktuellen Lage?“
Marginalisierung der Linken überwinden
Es folgt eine umfassende Analyse gegenwärtiger Krisen und wie diese das ökonomische, soziale und politische Geschehen beeinflussen. Die bittere Erkenntnis: Bestehende Herrschaftsverhältnisse werden durch das krisenbedingte Gefühl von Unsicherheit und Desorientierung eher stabilisiert. Die Linke findet kein Gegenmodell, verstrickt sich im Kleinklein, kämpft gegen „neoliberale Subjektivierung“, Selbstoptimierung, Individualismus, den Rückzug ins Private.
Für Möglichkeiten einer Intervention benennt die iL dann eher altbekannte Konfliktfelder, wie die falschen Versprechungen des Neoliberalismus, soziale Reproduktion, Klimakrise, Migration, Grenzregime und (Anti-)Rassismus – Ausgangspunkte, sich einzumischen, um Diskursverschiebungen zu erreichen und Alternativen aufzuzeigen zum „bürgerlich-liberalen Hoffnungsprojekt einer ‚grünen‘ Modernisierung“ und dem „offen autoritären, manchmal faschistischen Projekt der fossilen Rückwärtsgewandtheit“. Damit könne, so die Hoffnung, die Marginalisierung der Linken überwunden werden.
Weil das Verlangen nach Revolution alleine nicht reicht
Weil „das Verlangen nach Revolution alleine nicht reicht“ stellt die iL im folgenden Abschnitt die Frage nach den richtigen Strategien: „Wie identifizieren wir nicht nur Konfliktfelder, sondern werden in ihnen handlungsfähig? Was sind kollektive Organisationsformen für das 21. Jahrhundert? Wie bauen wir gesellschaftliche Gegenmacht auf?“ Man setzt auf eine allmähliche Verschiebung der Kräfteverhältnisse und parallel dazu auf Intervention, wenn sich spontan die Gelegenheit ergibt, ein emanzipatorisches Projekt zu verfolgen: „Chancen erkennen und das zu tun, was unmöglich erscheint“.
Vergesellschaftung und Selbstverwaltung
Zentrale Forderung der iL ist der Kampf um Vergesellschaftung. Als Beispiel dafür wird die Kampagne ‚Deutsche Wohnen und Co. Enteignen‘ genannt. „Vergesellschaftung meint die umfassende Demokratisierung von Produktion und Reproduktion, indem sie aus der Kontrolle von Staat und Kapital befreit werden. […] Wenn Beschäftigte, Nutzer*innen und Mieter*innen sich demokratisch selbst verwalten und globale und gesamtgesellschaftliche Interessen berücksichtigen, verwirklicht sich das revolutionäre Potenzial von Vergesellschaftung.“ Es gehe darum, „Staat und Kapital zugunsten demokratischer Selbstverwaltung zurückdrängen“. Ohne explizit darauf hinzuweisen, erinnert dies ein wenig an das Konzept des demokratischen Konföderalismus von Abdullah Öcalan, auf das sich die iL mit Solidaritätskampagnen für die Revolution in Rojava immer wieder positiv bezogen hat.
Organisierung und Aktionsformen
Zentral bleibt die Frage der Organisierung. Diese „überwindet individuelle Ohnmacht und schafft Selbstermächtigung, […] fragt nicht nach der Legalität, sondern nach der Legitimität ihres Handelns und bestreitet damit das staatliche Gewaltmonopol.“ Vorgesehen sind weiterhin Aktionen massenhaften Ungehorsams mit dem Credo „offen sagen, was wir tun – und tun, was wir sagen“. Gleichwohl bewertet die iL dabei selbstkritisch die Ritualisierung von Aktionsformen der vergangenen Jahre, die oftmals schöne Bilder lieferten, aber zu keinen greifbaren Veränderungen führten.
Transnationale Perspektive und Praxis
Unter dem Punkt ‚solidarisch und organisiert kämpfen‘ kommt dann auch die transnationale Perspektive ins Spiel. Es gelte, „die nationale Beschränktheit unseres politischen Handelns hinterfragen und überschreiten. […] Insbesondere wollen wir uns zu Aufständen und revolutionären Projekten wie den Selbstverwaltungsstrukturen in Nord- und Ostsyrien/Rojava und den zapatistischen Gebieten in ein eigenes Verhältnis setzen.“ Generell will man den eurozentristischen Blickwinkel überwinden. Beim Vorhaben der Entwicklung einer transnationalen Praxis nimmt sich die iL dann auch vor, „engere Verbindungen mit denjenigen knüpfen, die sich die gleichen Fragen wie wir stellen und ein ähnliches Politikverständnis haben“. Explizit will man „die Lern- und Austauschprozesse mit unseren Genoss*innen der kurdischen Befreiungsbewegung, die bereits transnational agiert, verstetigen und intensivieren“.
Kooperation mit der kurdischen Bewegung
Tatsächlich war in der Geschichte der iL der Austausch und die Kooperation mit der kurdischen Bewegung schon einmal intensiver. Da gab es zum Beispiel als weithin sichtbaren Ausdruck die riesige PKK-Flagge getragen vom iL-Block anlässlich der G20-Demonstration in Hamburg oder den Geburtstagsgruß zum 40-jährigen Bestehen der PKK.
Eine Annäherung beider Bewegungen (iL und PKK) in dieser dunkler werdenden Zeit wäre ganz sicher zum gegenseitigen Vorteil. Am Ende ihres Grundsatzpapiers unter dem Punkt „Genoss*innenschaft leben“ werden Stichworte genannt, die auch in der kurdischen Freiheitsbewegung eine zentrale Rolle spielen: Kritik und Selbstkritik, Kultur der Ernsthaftigkeit, (Selbst-)Disziplin, Kritik der (toxischen) Männlichkeit … Die iL nimmt sich vor, eine linke Infrastruktur aufzubauen und „Orte der Solidarität“ zu schaffen. Ein erster Schritt könnte sein, die Orte der kurdischen Bewegung aufzusuchen, um sich auszutauschen, voneinander zu lernen und die gegenseitigen Vorurteile und Momente der kulturellen Fremdheit zu überwinden.
Einladung zu Kritik und Debatte
In ihrer Pressemitteilung lädt die iL dazu ein, Zweifel, Lob, Weiterdenken und Kritik zum neuen Grundsatzpapier an ihre Mailadresse [email protected] zu schicken. Außerdem empfohlen wird der Debattenblog, auf dem Beiträge und durchaus kontroverse Debatten zu verschiedenen Themen veröffentlicht werden.