Aslan: Regierung fürchtet gemeinsamen Kampf
Laut EMEP-Vorsitzenden Seyit Aslan ist die wachsende Einheit zwischen dem kurdischen Kampf und dem Kampf der Arbeiter:innen in der Türkei dasjenige, was die Regierung am meisten fürchtet.
Laut EMEP-Vorsitzenden Seyit Aslan ist die wachsende Einheit zwischen dem kurdischen Kampf und dem Kampf der Arbeiter:innen in der Türkei dasjenige, was die Regierung am meisten fürchtet.
Nach der Festnahme des Bürgermeisters der Stadtverwaltung Istanbuls, Ekrem İmamoğlu, und elf weiterer Personen am 19. März, trat in der Türkei eine neue Phase ein. Die landesweiten Proteste gegen die Festnahmen haben innerhalb der gesellschaftlichen Opposition neue Debatten ausgelöst. Insbesondere in den letzten Jahren hat die Reaktion der Öffentlichkeit auf die Bemühungen der Regierung, ein Repressionsregime zu errichten, wenn auch fragmentiert, in sozialistischen und linken Bewegungen Diskussionen über die Notwendigkeit einer gemeinsamen Front ausgelöst.
Der Vorsitzende der Arbeiterpartei (EMEP), Seyit Aslan, teilte ANF seine Einschätzung hinsichtlich der öffentlichen Reaktion nach den Protesten im Istanbuler Stadtteil Saraçhane und der anhaltenden Debatte über einen gemeinsamen Kampf mit. Er erklärte, dass die Reaktion in Saraçhane über das Potenzial der CHP hinausginge und erinnerte daran, dass die Haltung der Studierenden eine Schlüsselrolle bei der Entstehung des Widerstands gespielt habe. Des weiteren verwies er darauf, dass die Debatte um einen gemeinsamen Kampf schon seit geraumer Zeit bestehe.
Gemeinsamer Kampf bedeutet Einheit der Arbeiter:innenklasse, der Werktätigen und des Volkes
Aslan analysierte anhand diverser Beispiele der letzten zehn Jahre die Breite der Proteste und aktiven gesellschaftlichen Gruppen. Sie reichten von Universitätsstudierenden, Lehrkräften und Bäuer:innen über Arbeiter:innen verschiedener Sektoren bis hin zu den Widerständen gegen die von der Regierung eingesetzte Zwangsverwaltungspolitik in bestimmten Regionen des Landes. Häufig hatten sie Massencharakter und es wurde durch die lokalen Proteste eine bestimmte Atmosphäre geschaffen. Bezüglich der aktuellen Proteste fügte Aslan hinzu: „Diese mächtige Massenprotestbewegung, die durch die militante Haltung der Universitätsjugend ausgelöst wurde, hat sich trotz aller Drohungen der Regierung über das ganze Land ausgebreitet.“ All dies sind für den Politiker Anzeichen einer Massenbewegung, die unter der Oberfläche brodelt.
Während des gesamten Prozesses sei viel die Rede von einem gemeinsamen Kampf gewesen, worunter der EMEP-Vorsitzende die Einheit der Arbeiter:innenklasse, der Werktätigen und des Volkes versteht. Ein Zusammenschluss linker und sozialistischer Kräfte sei nur mit diesem Ziel sinnvoll. Er kritisierte, dass es keine sinnvollen Schritte gegeben habe, diesen Zusammenschluss effektiv in die Tat umzusetzen. Zwar herrsche ein Bewusstsein darüber vor, dass es eine Veränderung „von unten“ braucht und die Kraft hierfür auch vorhanden sei, jedoch sei die bisherige Bewegung innerhalb der Grenzen des aktuellen politischen Systems geblieben. „Solange die linken und sozialistischen Kräfte nicht das Niveau erreichen, das sie in die Lage versetzt, zukünftige Massenbewegungen voranzubringen und mit konkreten Siegen abzuschließen, wird diese Einschränkung bestehen bleiben“, urteilte Aslan.
Der Parteivorsitzende schlägt hierfür ein Vorgehen vor: „Um dringende Forderungen herum kann eine ‚Volksfront‘ organisiert werden. Es könnte ein Prozess eingeleitet werden, in dem sich alle politischen Parteien, Berufsverbände, Gewerkschaften und ähnliche Gruppierungen zu gemeinsamen lokalen Einheiten zusammenschließen. Dies könnte der erste Schritt einer solchen Volksfront sein. Mit anderen Worten: Organisationen und Parteien müssen aus einer Position heraus handeln, die die Interessen der Arbeiter:innen, der Werktätigen und der Bevölkerung in den Vordergrund stellen, statt ihre eigenen engen Gruppeninteressen zu schützen.“
„Die Studierenden haben nichts mehr zu verlieren“
Großes Widerstandspotenzial habe landesweit immer wieder die Studierendenbewegung gezeigt: Auf den enormen Druck, der auf die Studierenden ausgeübt werde, haben diese mit erheblichem Aufruhr reagiert, erklärte Aslan und hob hervor, dass Einschüchterungsmaßnahmen für sie keine Wirkung mehr hätten. Zuletzt habe die Aberkennung des Diploms von Ekrem İmamoğlu das Fass zum Überlaufen gebracht, welche die Unsicherheit der Wertigkeit ihrer Abschlüsse zum Ausdruck brachte. Dass die Studierenden bei diesem Protest schließlich Polizeibarrikaden durchbrachen, markiere laut Aslan den entscheidendsten Wendepunkt in diesem Prozess: „Sie kamen an den Punkt, an dem sie sagten: ‚Das geht zu weit.‘ Die Studierenden haben nichts mehr zu verlieren.“
Wichtige Elemente, welche die Dynamik der Studierendenbewegung verstärken, seien dass die Studierenden ihrer Fakultäten und Standorte gemeinsam auf die Straße gingen sowie die begrenzt vorhandenen Organisationsformen. Im Vergleich zu (Hilfs-)Arbeiter:innen, die individuell auf Anrufe reagierten, handelten die Studenten organisierter. Darüber hinaus vertieften sie diese Organisation durch Aktionen, Treffen in Foren, gemeinsame Entscheidungen und die Durchführung eines demokratischen Prozesses. Dies rückte sie natürlich in den Vordergrund und machte sie zur führenden Kraft einer Protestwelle, die tagelang im ganzen Land anhielt.
Die landesweite Verbreitung der Boykottaufrufe sei auf die Klarheit und Stärke ihrer Forderungen zurückzuführen. Eines müsse laut Aslan betont werden: „Die Jugend hat diesem Prozess enorme Energie und Dynamik verliehen. Es ist wichtig, junge Menschen zu verstehen und die Tiefe ihrer Sorgen hinsichtlich der Zukunft zu erkennen. Die unterdrückerische und repressive Politik der Ein-Mann-Herrschaft und des Palastregimes ist gescheitert. Die psychologische Barriere ist bereits durchbrochen. Von nun an werden die Angriffe der Regierung nicht unbeantwortet bleiben. Die Jugend hat ihr Schweigen gebrochen.“
Die Regierung fürchtet die Einheit
Die Massenbewegung, die nach dem 19. März entstand, flößte der Regierung erhebliche Angst ein und zeigte den Weg auf, der eingeschlagen werden müsse, dessen ist Aslan sich sicher. Er betonte, dass die Regierung seit langem versuche, die Vereinigung des Freiheitskampfes des kurdischen Volkes mit dem Kampf der Arbeiter:innen und Werktätigen aus der Türkei zu verhindern und erklärte: „Regierungen und Kapital haben schon immer versucht, Massenbewegungen zu spalten, zu fragmentieren und zu neutralisieren, sei es im Kampf der Arbeiter:innen und Werktätigen um ihre Rechte oder im Kampf des kurdischen Volkes um Freiheit und Gleichheit.“
Auch die Opposition habe in bestimmten Kreisen manchmal zu Spaltungen beigetragen und tue dies heute noch. Da die Menschen sich allerdings stattdessen auf die Ungerechtigkeiten und Rechtswidrigkeiten konzentrierten, würde solchen Tendenzen aktuell kein Vertrauen entgegengebracht werden. Vielmehr beobachtet Seyit Aslan, dass kurdisch-türkische Arbeiter:innen zunehmend erkennen, dass sie dieselben Probleme haben.
Aslan stellt klar: „Als Arbeiterpartei werden wir während des 1. Mai unsere Stimme erheben und die dringendsten Forderungen der Arbeiter:innenklasse mit den Forderungen des kurdischen Volkes nach Gleichheit und Freiheit zusammenbringen. Und wir werden weiterhin für den Aufbau und die Stärkung dieses gemeinsamen Kampfes kämpfen.“
Das Narrativ, nicht auf die Straße zu gehen, ist zerstört
Seyit Aslan sieht die reale Möglichkeit für den Aufbau einer gemeinsamen „Front“. Die landesweiten Proteste hätten das langjährige Narrativ der CHP, „die Straßen zu meiden“, durchbrochen. Er betonte, dass die Regierung während der jüngsten Proteste die Kontrolle verloren habe und schloss seine Ausführungen wie folgt: „Die Massen überwanden die Angstschwelle, indem sie erneut ihre eigene Stärke testeten. Zwar war die Entstehung einer Massenbewegung vorhersehbar, doch waren die Bedingungen und das Ausmaß ihrer Entfaltung schwer vorherzusagen – ähnlich wie in den Momenten, die wir einst als „Gezi“, „Kobanê“ oder „Metallsturm“ [tr. „metal fırtına“, Streiks ohne Gewerkschaftsunterstützung im Metallsektor in den Jahren seit 2015, Anm. d. Red.] bezeichneten. Jeder dieser gewaltigen Massenaufstände hat uns wertvolle Lektionen erteilt. Wir lernen und ziehen unsere Lehren daraus. Die jüngste Welle bildet da keine Ausnahme.“
Es reiche nicht aus, schlicht zusammenzukommen, sondern der Erzielung einer Einheit müsse oberste Priorität eingeräumt werden: „Als Organisationen, Parteien und demokratische Kräfte mit unterschiedlichen Programmen können wir heute eine gemeinsame Kampfbasis schaffen, indem wir uns für die dringendsten demokratischen Forderungen und Freiheiten der Arbeiter:innenklasse einsetzen.“ Seyit Aslan fügte abschließend hinzu: „Es ist möglich, eine Front des Kampfes sowohl gegen das Wirtschaftsprogramm der Regierung für ein Leben in Würde, einen existenzsichernden Lohn und die Möglichkeit, über die Runden zu kommen, als auch für die Lösung der kurdischen Frage unter gleichberechtigten Bedingungen sowie für unsere demokratischen Rechte und Freiheiten aufzubauen.“