Die Volksverteidigungseinheiten (YPG) haben jegliche Verantwortung für den Anschlag mit sechs Toten in Istanbul zurückgewiesen. YPG-Sprecher Nuri Mehmud bestritt am Montag jegliche Verbindung zu der Hauptverdächtigen und unterstellte der Türkei, „Lügen“ zu verbreiten. Dass die politische Führung des Landes im Handumdrehen eine vermeintliche Attentäterin präsentierte, die ihren angeblichen „Befehl“ in Nordsyrien erhalten habe, zeichne das Bild eines „realitätsfernen Szenarios“. Präsident Recep Tayyip Erdoğan wolle auf diesem Wege die Welt im Vorfeld des G20-Gipfels auf Bali davon überzeugen, einem türkischen Angriff auf Rojava und die Autonomiegebiete von Nord- und Ostsyrien zuzustimmen. Ankara droht schon länger mit einer neuerlichen Invasion in der Region.
Die türkische Polizei hatte zuvor mitgeteilt, dass die festgenommene Hauptverdächtige des Anschlags – angeblich eine Syrerin – „im Auftrag“ von „PKK/YPG/PYD“ gehandelt habe. Die 23-Jährige sei kurz zuvor illegal aus den von der Türkei und verbündeten Dschihadistenmilizen besetzten Regionen Efrîn und Idlib im Nordwesten von Syrien ins Land eingereist. Ihre Anweisungen habe sie aus der kurdischen Stadt Kobanê erhalten, sagte Innenminister Süleyman Soylu - der sich zum Zeitpunkt des Anschlags in Idlib aufhielt und ein koloniales Siedlerprojekt feierlich eröffnete. Aus Sicht von Ankara sind die YPG und die in Rojava aktive politische Partei PYD Ableger der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK). Ankara listet alle Gruppierungen als „Terrororganisationen“.
Mehmud betonte, die YPG verurteilten jegliche Angriffe auf Zivilpersonen. Die Welt habe hinreichend erfahren, dass ihre Kräfte die Rechte des kurdischen Volkes verteidigten und den Terrorismus bekämpften. „Unser Handeln basiert auf den Werten von Demokratie, Frauen- und Menschenrechten und Freiheit. Das Ziel unseres Wirkens ist der Kampf gegen Terror und Diktaturen“, so der YPG-Sprecher. „Unsere Gedanken sind bei den Angehörigen der Opfer, den Verwundeten wünschen wir rasche Genesung“, sagte Mehmud.
Die türkische Polizei und regierungsnahe Medien, unter anderem die amtliche Nachrichtenagentur Anadolu, veröffentlichten indes unverpixelte Fotos der vermeintlichen Attentäterin und ihren Klarnamen. Zu sehen ist eine junge Frau, die mit angsterfüllten Augen in die Kamera blickt. Deutlich zu erkennen sind außerdem körperliche Spuren von Gewalt in ihrem Gesicht.
Mehmud: Szenario wirkt wie ein Wahlmanöver
Laut Mehmud wirke dieses „Szenario“ samt all den wilden Spekulationen über die „PKK/YPG/PYD“-Urheberschaft des Anschlags auch wie ein typisches Wahlmanöver Erdoğans. 2023 finden in der Türkei die Präsidentschaftswahlen statt. In der Vergangenheit hatte es im Vorfeld von Wahlen immer wieder Anschläge gegeben. Zwei besonders verheerende Anschläge gegen HDP-Veranstaltungen mit insgesamt 109 Todesopfern und hunderten Verletzten in Ankara und Amed (tr. Diyarbakir) durch Selbstmordattentäter der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) hatten unmittelbar vor und nach der Parlamentswahl im Juni 2015 stattgefunden. Damals hatte die AKP nach zwölf Jahren ihre absolute Mehrheit verloren, die HDP zog erstmals ins Parlament. Bei der vorgezogenen Wahl im November desselben Jahres konnte Erdoğan dann seine verlorene Alleinregierung wieder zurückgewinnen.