Die zunehmende Instabilität in Nordsyrien macht internationale Maßnahmen gegen in der Region inhaftierte Mitglieder der Terrororganisation „Islamischer Staat“ (IS) immer dringlicher. Das geht aus einem Bericht des Washington Institute for Near East Policy hervor. Die Extremismusexpertin Devorah Margolin von der in den USA ansässigen Denkfabrik analysiert in dem Report mögliche Auswirkungen der Ankündigung der Autonomieverwaltung von Nord- und Ostsyrien (AANES), ausländische IS-Häftlinge aufgrund des Ausbleibens internationaler Unterstützung vor eigene Gerichte zu stellen.
Seit der territorialen Niederlage des IS in Syrien Anfang 2019 hat die AANES Herkunftsstaaten der ausländischen IS-Mitglieder wiederholt aufgefordert, Verantwortung für ihre Staatsangehörigen zu übernehmen und diese zurückzuholen. Doch für die mehr als 10.000 ausländischen IS-Verbrecher aus über sechzig Ländern, die in der Region gefangen gehalten werden, will keine Regierung Verantwortung übernehmen. Auch Appelle für die Einrichtung eines internationalen Tribunals bleiben unerhört. „Die Ankündigung der AANES verdeutlicht, dass sich die Frustration der Menschen vor Ort über die ausbleibende Reaktion der internationalen Gemeinschaft hinsichtlich des IS-Problems zugespitzt hat“, konstatiert Margolin.
Für die juristische Aufarbeitung der IS-Verbrechen sollen die Volksgerichte sorgen, die dem Rat für gesellschaftliche Gerechtigkeit angegliedert sind. Die Prozesse sollen transparent und öffentlich sein und in Übereinstimmung mit internationalen Rechtsnormen und lokalen Gesetzen für Terrorverfahren erfolgen. Laut Margolin könnte dies jedoch die Beziehungen der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) zur Combined Joint Task Force-Operation Inherent Resolve (CJTF-OIR), der Task-Force der internationalen Anti-IS-Koalition, beeinträchtigen. Die QSD sind das militärische Dachbündnis in der AANES und wichtigste Partner des Westens im Kampf gegen den IS.
Darüber hinaus trage die Normalisierung im Umgang von Ländern in Nahost mit dem syrischen Langzeitherrscher Baschar al-Assad, dessen Regime kürzlich wieder in die Arabische Liga aufgenommen wurde, sowie die von Russland und Iran forcierte Annäherung zwischen Syrien und der Türkei „potenziell zur Destabilisierung der Region“ bei. Unklar bliebe allerdings, wie Assad mit den IS-Gefangenen umgehen würde, wenn er in den nördlichen Regionen Syriens stärker Fuß fassen würde.
Die Eskalation der Militärgewalt der Türkei in Nordsyrien hingegen verschärfe die Spannungen in der Region, so die Analyse, erhöhe den Druck auf die QSD und verringere damit deren Fähigkeit, Ressourcen für Anti-Terror-Operationen einzusetzen. Daraus ergebe sich eine höhere Dringlichkeit, dass die internationale Gemeinschaft Verantwortung für ausländische IS-Gefangene in der AANES übernimmt, sie aufspürt oder repatriiert. Innere und äußere Sicherheitsrisiken von Gefangenenlagern und Gefängnissen, gerade hinsichtlich Revolten von IS-Häftlingen, stellten einen permanenten destabilisierenden Faktor dar, so die Expertin weiter. Die Folgen der Erdbeben-Serie vom Februar, die den Nordosten Syriens und den Südosten der Türkei verwüstete, verschärften die prekäre Lage zusätzlich, so Margolin.
„Letztendlich wird auch eine effektive Rückführung nicht alle Probleme in der Region lösen. Doch diese Personen [IS-Mitglieder] einfach in Syrien zurückzulassen, stellt ein viel größeres Risiko für die internationale Gemeinschaft dar“, so die Schlussfolgerung des Berichts.