Syrien: GfbV warnt vor Entstehung einer „Islamischen Republik“

Ethnische Säuberungen in kurdischen Gebieten, Gerüchte über verwüstete Kirchen und radikale Predigten: Die Gesellschaft für bedrohte Völker warnt vor dem Entstehen einer HTS-geführten „Islamischen Republik“ in Syrien.

Ethnische Säuberungen, verwüstete Kirchen und radikale Predigten

Nach dem Sturz der Assad-Diktatur warnt die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) vor dem Entstehen einer „Islamischen Republik“ in Syrien. „Die neuen Machthaber Syriens geben sich in den ausländischen Medien zwar moderat, es gibt jedoch bereits viele Zeichen, dass sie ihre Versprechen nicht halten“, sagte der GfbV-Nahostreferent Dr. Kamal Sido am Montag in Göttingen. Überall in Syrien würden Imame, Mullas und sunnitisch-islamische „Gelehrte“ mit staatlichen Aufgaben betraut. Sollte in Syrien eine „Islamische Republik“ entstehen, werde das dramatische Folgen für Minderheiten und Frauen haben.

In Tartus an der syrischen Mittelmeerküste etwa sei der ehemalige Dekan der Fakultät für islamisches Scharia-Recht an der Universität Idlib, Anas Ayrout, mit der Verwaltung des Gouvernements beauftragt worden, berichtete Sido. Ayrout habe in den vergangenen Tagen in seinen Predigten von „islamischer Eroberung“ gesprochen, was Angehörigen religiöser Minderheiten in Tartus große Angst mache. Das Gouvernement hat rund 500.000 Einwohnende und ist konfessionell sehr vielfältig, neben sunnitischen Muslimen leben dort auch syrisch-orthodoxe Christ:innen und Maronit:innen sowie Ismailit:innen. Die Mehrheit der Bevölkerung in Tartus ist jedoch alawitisch. Alawit:innen machen etwa zwölf Prozent der gesamten syrischen Bevölkerung aus. Auch der gestürzte Diktator Baschar al-Assad ist Alawit.

Laut Sido trauten sich Angehörige dieser Minderheiten in Tartus nicht mehr auf die Straße. Sie stünden unter dem Verdacht, Assad unterstützt zu haben, und fürchteten sich deshalb vor Racheakten sunnitischer Islamisten. Der Menschenrechtler sprach auch von Gerüchten über Verwüstungen von christlichen Kirchen in ganz Syrien. Gleichzeitig gingen die ethnischen Säuberungen gegen die kurdische Bevölkerung im Norden Syriens weiter. Sido sprach von „pogromartigen Übergriffen“, zu denen es in der Stadt Minbic (Manbidsch) auf die dort noch lebende kurdische Zivilbevölkerung komme.

Das bestätigten auch die Frauenverteidigungseinheiten (YPJ), die 2016 maßgeblich an der Offensive der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) zur Befreiung Minbics aus den Händen der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) beteiligt waren. Mittlerweile ist Minbic wieder besetzt, diesmal durch die Türkei und ihre islamistische Hilfstruppe SNA, die unlängst auch in der Stadt Tel Rifat einmarschiert ist. Auch im nahegelegenen Aleppo bleibe die Lage für Kurd:innen und Christ:innen laut Sido angespannt. Und in der weiter nördlich gelegenen und seit 2018 von der Türkei besetzten Efrîn-Region sollen in den letzten fünf Tagen mindestens 100 Kurd:innen von pro-türkischen Söldnern festgenommen worden sein. Sie waren nach dem Sturz Assads in ihre Heimat zurückgekehrt und wollten in ihre Häuser zurück.

„Die Entwicklungen sind besorgniserregend. Die Lage in Syrien könnte weiter eskalieren und zu einem arabisch-kurdischen Krieg führen“, sagte Sido. „Der türkische Machthaber Recep Tayyip Erdoğan hat seinen Außenminister und seinen Geheimdienstchef bereits in die syrische Hauptstadt Damaskus geschickt, um eine friedliche Lösung zwischen den neuen Machthabern in Syrien und der kurdischen Selbstverwaltung im Nordosten des Landes zu torpedieren. Diese Politik Erdoğans ist brandgefährlich. Die deutsche Bundesregierung, insbesondere das Auswärtige Amt, darf nicht auf Erdoğan und die syrischen Islamisten setzen, wenn sie wirklich Stabilität und eine langfristige Friedensordnung schaffen will“, warnte der Nahostreferent.

Der Konflikt habe auch Auswirkungen auf Angehörige syrischer Minderheiten, die nach Deutschland geflüchtet sind. Zwischen konservativ gesinnten Syrer:innen, die mit den Islamisten in Syrien sympathisieren, sowie Kurd:innen und Christ:innen aus Syrien komme es zunehmend zu Konflikten. Die deutsche Politik dürfe die Gefahren des politischen Islam nicht unterschätzen – „weder in Syrien noch in Deutschland“, mahnte Sido.

HTS regiert in Damaskus

Ein Dschihadistenbündnis unter Führung der islamistischen Miliz Hayat Tahrir al-Sham (HTS) hatte am 8. Dezember Damaskus erobert und Regimechef Baschar al-Assad gestürzt. Der Einnahme der syrischen Hauptstadt war ein rasanter Vormarsch der Milizen durch das Land vorangegangen. Assad, dem Verbrechen wie Entführung, Folter und Ermordung von Andersdenkenden vorgeworfen werden, floh nach Russland. Aktuell hat eine Übergangsregierung die Kontrolle in Damaskus, sie wird geleitet vom bisherigem „Regierungschef“ der HTS-Hochburg Idlib, Mohammed al-Baschir. Er soll bis März im Amt bleiben. Wie die darauffolgende Regierung bestimmt werden soll, dazu hat HTS bisher noch keine genauen Angaben gemacht.

Foto: Einganz zur syrisch-orthodoxen Kirche Mar Jakob in Qamişlo © ANHA