Schwere Misshandlungen durch Invasionstruppen
Der Wiesbadener Arzt Michael Wilk berichtet aus einem Krankenhaus in Nordsyrien von Patienten, die von den türkischen Invasionstruppen schwer misshandelt worden sind.
Der Wiesbadener Arzt Michael Wilk berichtet aus einem Krankenhaus in Nordsyrien von Patienten, die von den türkischen Invasionstruppen schwer misshandelt worden sind.
Seit vier Tagen ist der Notfallmediziner Michael Wilk aus Wiesbaden in Rojava. Er ist Teil einer achtköpfigen internationalen Gruppe von Mitarbeiter*innen aus dem Gesundheitsbereich. Ein Teil der Gruppe arbeitet im Krankenhaus von Qamişlo, Michael Wilk und andere sind im Lêgerîn-Krankenhaus in Til Temir.
Wie der Wiesbadener Arzt aus Til Temir berichtet, treffen weiter Verletzte von der etwa zwanzig Kilometer entfernten Front im Krankenhaus ein. Darunter sind auch Zivilist*innen. Eine etwa vierzigjährige Frau, die bei einem türkischen Artillerieangriff in der Nähe von Serêkaniyê schwer verletzt wurde, ist soeben im Krankenhaus gestorben. „Wir konnten ihr nicht mehr helfen“, sagt Michael Wilk.
Jetzt sind mehrere männliche Patienten arabischer Herkunft hinzugekommen. Sie kommen aus Menacir und berichten, von türkischen Invasionstruppen misshandelt worden zu sein. Menacir liegt im Bereich der türkischen Besatzungszone.
Die Fotos der Misshandelten belegen ein weiteres Mal die schweren Kriegsverbrechen des türkischen Staates.
Rojava: „Eine schwierige Lage bedeutet noch nicht das Ende"
Einen Tag nach seiner Ankunft in Nordsyrien berichtete Michael Wilk, der sich bereits häufig in der Region aufgehalten und als Notfallmediziner praktiziert hat, auf seiner Facebook-Seite:
In Rojava ereignet sich himmelschreiendes Unrecht. Nicht erst seit den erneuten Angriffen der Türkei auf nordostsyrisches Gebiet vor nunmehr 15 Tagen wurde klar, was eine von Erdoğan befohlene Invasion als Ziel verfolgt. Schon im Frühjahr 2018 zeigte der Einmarsch in Afrin, worum es geht: Die Zerstörung selbstverwalteter Strukturen, der Selbstbestimmung an sich. Eine Macht, die nicht zögert dschihadistisch-islamistische Söldner auf Menschen loszulassen, benutzt Worte wie Frieden und Freiheit im orwellschen Sinne. Die „Operation Friedensquelle" steht für Vertreibung, Mord und Totschlag, Leichen und Schwerverletzte. Gleichberechtigung der Geschlechter und Menschenrechte sollen dauerhaft entsorgt werden, ebenso wie die Freiheit des Wortes.
Der Vertrag zwischen Russland und der Türkei besiegelt diese Absicht, indem er den türkischen Invasoren zwei Städte und ein über hundert Kilometer breites und 30 Kilometer tiefes Gebiet überlässt. Der Verrat Trumps und der Rückzug der USA öffneten den Raum für die völkerrechtswidrige Invasion und zwangen die Menschen Rojavas, ihre selbstverwalteten Gebiete für das Assad-Regime und Russland zu öffnen. Eine Dynamik mit Folgen: Hundertausende flohen in Richtung Süden, das Gesundheits- und Versorgungssystem ist regional am Rande des Zusammenbruchs.
Die Selbstverteidigungseinheiten der YPG/YPJ werden sich unter Androhung weiterer Bombardements in unterschiedliche Entfernung zur Grenze zurückziehen, eine Eingliederung der Syrien Democratic Forces (SDF) in Assads Armee wird diskutiert.
Ohne Zweifel steht das gesellschaftliche Modell Rojavas auf der Kippe. Und doch, so wird es einem in jedem Gespräch entgegengehalten, „eine schwierige Lage bedeutet noch nicht das Ende". Die Menschen sind zum Teil erstaunlich gelassen, die Erfahrung von Rückschlägen und von unmenschlicher Unterdrückung währen schon lange. Die Situation ist durchaus ambivalent, in der Nähe der Kampfzonen müssen Strukturen und ganze Siedlungen aufgegeben werden, in anderen Regionen Rojavas ist hingegen noch alles unter Kontrolle der Selbstverwaltung. Die Asayesh Polizei kontrolliert an den Checkpoints, die Situation erscheint in der Großstadt Qamişlo (von gelegentlichen Attentaten abgesehen) vergleichsweise normal.
Während Europas Regierungen Lippenbekenntnisse ablegen, ohne wirklich Druck auf die Türkei auszuüben - zu groß ist die Angst vor politisch-sozialen Verwerfungen und ökonomischen Einbußen - kämpfen die Menschen Rojavas um das Überleben. Um ihr eigenes substantielles und das der von ihnen geschaffenen sozialen Strukturen. Diese Auseinandersetzung dauert an und ist noch lange nicht zu Ende. „Wir sind Rückschläge gewöhnt und werden es schaffen", ist die Aussage vieler.
Die Menschen Rojavas haben Solidarität und Unterstützung verdient. Es ist nicht unsere Aufgabe zu bestimmen, wann das Modell einer anderen menschlicheren Gesellschaft gescheitert ist oder nicht.