Salih Muslim: „Wir sollten uns nicht täuschen lassen“

Der kurdische PYD-Politiker Salih Muslim erklärt angesichts der Debatten zur kurdischen Frage in der Türkei: „Es mag sich um ein Spiel handeln, wir dürfen uns nur nicht täuschen lassen.“

Salih Muslim (PYD)

Während die türkische Armee Nord- und Ostsyrien bombardiert, gibt es aus Reihen des türkischen Regierungslagers Töne, die eine Lösungsbereitschaft suggerieren sollen. Im Interview mit der Nachrichtenagentur ANHA bewertete das Vorstandsmitglied der Partei der demokratischen Einheit (PYD), Salih Muslim, diese Entwicklungen.

In der Türkei und Nordkurdistan wird die kurdische Frage diskutiert. Die türkische Regierung hat entsprechende Erklärungen abgegeben. Gleichzeitig eskalieren die militärischen Angriffe des Regimes in Ankara. Wie ist das Ihrer Meinung nach zu interpretieren?

Im Nahen Osten ist ein Wandel im Gange. Manche meinen, dass im Nahen Osten ein Dritter Weltkrieg stattfindet, das ist wahr. In jedem Weltkrieg hat es Veränderungen gegeben, und der aktuelle Krieg bringt Veränderungen im System mit sich. Im Ersten Weltkrieg trat der Nationalstaat in den Vordergrund, im Zweiten Weltkrieg wurde die Welt bipolar, dieses System brach 1990 zusammen, sodass ein neues System notwendig wurde. Dieser Neuordnungsprozess wird nun als Dritter Weltkrieg bezeichnet. In diesem neuen System kann sich vieles ändern. Souveränität, Grenzen, Staat und Regierung usw. können sich ändern. Dieser Prozess ist seit 2010 im Gange, und was jetzt geschieht, ist Teil davon. Diejenigen, die sich diesem Projekt in den Weg stellen, werden beseitigt. Dazu gehörten die Hamas und die Hisbollah.

Der türkische Staat befindet sich in einer ausweglosen Situation“

Auch die Türkei sieht, was vor sich geht. Erdoğan sagt: „Israel wird uns angreifen.“ Das ist geografisch nicht möglich, aber Erdoğan will nicht zugeben, dass sich die Welt verändert. Die Bedingungen und Entwicklungen im Nahen Osten machen dies erforderlich. Die Türkei hat den Krieg, den sie seit nunmehr zehn Jahren gegen die Kurden führt, nie eingestellt. Der kurdische Repräsentant und die kurdischen Intellektuellen haben gesagt: „Wenn ihr die kurdische Frage löst, werden sowohl die Kurden als auch die Türken gewinnen; die Türkei könnte eine Großmacht im Nahen Osten werden.“ Aber es wurde nicht darauf gehört. Jetzt wurde verstanden, dass ein Wandel notwendig ist und dass nichts möglich ist, ohne dass die kurdische Frage gelöst wird. Nach zehn Jahren Krieg steht die Türkei am Rande des wirtschaftlichen, politischen und diplomatischen Zusammenbruchs. Die Türkei muss eine Lösung finden. Der Weg ist die Lösung der kurdischen Frage, aber die türkische Regierung konnte sich noch nicht dazu überwinden.

Das osmanische Spiel endet nicht“

Es wurden viele Worte und Reden gemacht, aber nichts Verbindliches. Abgesehen davon sind keine praktischen Schritte unternommen worden. Was auch immer die Regierung sagt, am nächsten Tag wird es wieder dementiert. Wir haben das beim Dolmabahçe-Prozess 2015 gesehen. Damals hat sie alles zerstört. Auch das kurdische Volk sollte aus seinen Erfahrungen lernen. In der Zeit von Turgut Özal wurden einige Versprechungen gemacht, aber sie wurden nicht eingehalten. 1993 gab es einen Verhandlungsprozess, der aber auch wieder von türkischer Seite gebrochen wurde. Einen weiteren Versuch gab es 1998 während der Erbakan-Ära, aber der türkische Faschismus machte auch ihn zunichte. Das Gleiche geschah in Oslo und auch 2015. Daraus sollten wir unsere Lehren ziehen. Es stimmt, dass die innere und äußere Lage uns zwingt, Maßnahmen zu ergreifen. Aber das osmanische Spiel endet nicht. Bislang wurden keine praktischen Schritte unternommen.

Türkische Regierungsvertreter hatten zu Beginn der Rojava-Revolution ähnliche Erklärungen abgegeben. Sie luden Sie nach Ankara ein, bezeichneten Sie und Ihre Partei dann aber als „Terroristen“ …

In den Jahren 2013, 2014 und 2015 sind wir als Kraft in den Vordergrund getreten. Die internationalen Mächte erkannten uns nicht an. Wir führten Krieg gegen al-Nusra, die Muslimbruderschaft und andere Söldnergruppen. Die Türkei hatte sie gegen uns aufgehetzt. Damals hatte die Türkei uns gerade anerkannt, sie sagten: „Eine neue Gruppe ist entstanden.“ So wollten sie die Situation umkehren. Es ging darum, uns auf ihre Linie zu ziehen und schließlich an die Muslimbrüder anzuschließen. Darum ging es damals. Damals reisten Ilham Ehmed, Asya Ebdullah und ich nach Ankara und Istanbul und saßen mit den türkischen Regierungsvertretern zusammen. Als sie merkten, dass wir uns nicht unter die Kontrolle der Muslimbrüder begeben würden und dass wir in Syrien den Dritten Weg wählten, erklärten sie uns zu „Terroristen“.

Ist die heutige Situation vergleichbar?

Es ist ein Spiel. Es war damals ein Spiel und es ist heute ein Spiel. Die Spiele mögen unterschiedlich sein. Man will die Kurden von ihren Zielen ablenken und sie, ohne ihnen etwas zu geben, abspeisen. Die türkische Regierung wird vor der Presse auftreten und sagen, sie habe dies und jenes getan, aber in der Praxis wird nichts passieren. Damals ging es nur um Rojava, jetzt geht es um alle Kurden.

Ömer Öcalan, Neffe von Abdullah Öcalan und Abgeordneter der DEM-Partei, konnte vor kurzem Abdullah Öcalan auf Imrali besuchen. Öcalan übermittelte dabei eine wichtige Botschaft. Wie ist das zu bewerten?

Besuche auf Imrali sind ein Recht von Rêber Apo und des kurdischen Volkes. Nach vier Jahren Totalisolation hat ein Besuch stattgefunden. Wir haben uns ernsthafte Sorgen um den Gesundheitszustand von Abdullah Öcalan gemacht. Aus diesem Grund ist dieser Kontakt sehr wichtig für uns und unser Volk. Er übermittelte unserem Volk seine Grüße und verfolgt den Prozess aufmerksam. Er übermittelte die Botschaft, dass er „wenn die Bedingungen dafür gegeben sind, die theoretische und praktische Macht hat, diesen Prozess von Konflikt und Gewalt hin auf eine legale und politische Basis zu stellen“. Er hat internationale Macht, die ganze Welt schaut auf ihn. Jetzt liegt es an der anderen Seite, und es wird sich zeigen, wie ehrlich sie ist.

Aber wird die Türkei ihre notwendigen Schritte gehen?

Es gibt keine Alternative, die äußeren und inneren Bedingungen machen es für sie zwingend. Der Schlüssel ist Abdullah Öcalan. Natürlich wird das osmanische Spiel weitergespielt, es geht um Schwächung und Zerstörung. Aber die Rettung der Türkei liegt in den Händen von Abdullah Öcalan. Der Moment ist gekommen, die Regierung kann sich nicht mehr verweigern.

Was muss also für eine Lösung oder einen sinnvollen Prozess getan werden?

Es müssen die Bedingungen dafür geschaffen werden, dass Abdullah Öcalan frei mit Einzelpersonen, seinem Volk und seiner Organisation kommunizieren kann. Wenn dies nicht geschieht, wird nichts passieren und dann können wir auch nicht über einen entsprechenden Verhandlungsprozess sprechen. Das sind die Vorbedingungen. Es müssen Voraussetzungen geschaffen werden, damit der Friedensprozess stattfinden kann. Wenn man Frieden will, muss man zuerst Abdullah Öcalan diese Möglichkeiten geben.

Während des Dolmabahçe-Prozesses bestand Abdullah Öcalan darauf, die Angelegenheit vor das Parlament zu bringen. Denn das Thema wurde sowohl offiziell als auch vom ganzen Volk diskutiert. Es sollte im Parlament diskutiert werden. Das kurdische Volk will Gleichheit, nichts anderes.

Wohin wird die aktuelle Situation Ihrer Meinung nach führen?

Die globalen Entwicklungen machen die Lösung der kurdischen Frage ebenso zwingend, wie die im Nahen Osten. Wer Frieden im Nahen Osten, in Syrien, der Türkei und anderswo will, muss die zugrundeliegenden Probleme lösen. Die internationalen und regionalen Mächte haben dies erkannt. Je mehr Spielchen getrieben werden, desto später wird es dazu kommen. Verzögerungen verschlimmert die Lage. Das Problem muss gelöst werden. Die Lösung hängt vom kurdischen Volk und anderen Völkern ab. Es mag entsprechende Spielchen geben, aber wir sollten uns nicht täuschen lassen. Das kurdische Volk ist in seiner Geschichte viele unzählige Male der Tyrannei unterworfen worden, aber es spielte auch immer wieder eine Vorreiterrolle für die Menschheit. Heute sorgen das kurdische Volk und andere Völker für Einigkeit und Frieden. Wir sind die Vorreiter der Demokratie im Nahen Osten, daher wird von uns erwartet, dass wir heute unsere historische Rolle spielen. Auch die internationalen Mächte haben dies erkannt. Wir müssen unseren Kampf im Einklang mit dieser Realität fortsetzen.