Salih Muslim: Die politischen Verhältnisse können sich ändern

Es besteht die Möglichkeit, dass sich der Gaza-Krieg ausweitet und auf andere Staaten übergreift. Es ist nicht klar, wo dieser Krieg enden wird. Aber alle Gleichgewichte im Nahen Osten werden sich ändern, meint der PYD-Vorsitzende Salih Muslim.

Salih Muslim, Ko-Vorsitzender der PYD, hat im ANF-Interview die veränderten politischen Verhältnisse im Nahen Osten analysiert. Der kurdische Politiker sagt, dass die Selbstverwaltung im Nordosten Syriens nicht übergangen werden kann. Die Türkei steuere auf einen Zusammenbruch zu, der nur durch eine Lösung der kurdischen Frage aufgehalten werden könne. Wir veröffentlichen den ersten Teil des Interviews in deutscher Übersetzung:

Erdoğan nutzt für seine Interessen die geostrategische Lage der Türkei. Alle Staaten gehen entsprechend auf die Türkei zu. Wie bewerten Sie das in der aktuellen Phase?

Die Türkei hat eine geographisch wichtige Position. Vor allem bei der Gründung der NATO im Jahr 1952 war die geostrategische Lage der Türkei sehr wichtig. Damals unterhielt der türkische Staat Beziehungen zu Asien und Europa. Außerdem verfügte er über ein großes Territorium und stand im Gegensatz zu Sowjetrussland und vielen sozialistischen Ländern. Das machte ihn für die NATO noch wichtiger. Sie errichteten Stützpunkte in der Türkei, wie zum Beispiel die Militärbasis Incirlik. In diesem Sinne hatte die Türkei einen Platz in der NATO gewonnen. Es wurden viele Abkommen geschlossen, und die Türkei profitierte sehr von diesen Abkommen. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion verlor die Türkei jedoch weitgehend ihre geostrategische Bedeutung. Mit der Entwicklung der Technologie, dem Aufkommen von Satelliten, dem Internet und der Entwicklung des Flugverkehrs hat sich die Situation für die Türkei weiter verschlechtert. Während des Kalten Krieges war der türkische Staat besonders wichtig. Er wurde sowohl wegen der in der Türkei eingerichteten Stützpunkte als auch als Barriere gegen die realsozialistischen Staaten genutzt. Mit der Auflösung der Sowjetunion und der technologischen Entwicklung hat die Türkei diese wichtige geostrategische Position weitgehend verloren.

Diesmal kam das Kapital ins Spiel. Wenn das globale Kapital sich an einem Ort entwickeln will, dann will es dort Stabilität. Nach 1990 hat man versucht, in der Türkei für Stabilität zu sorgen. Der damalige Präsident Turgut Özal ergriff Initiativen, um Stabilität zu gewährleisten und den Handel in der Türkei zu anzukurbeln. Dazu musste jedoch die kurdische Frage gelöst werden. Zu diesem Zweck wollte man das kurdische Frage innerhalb der Türkei lösen, was jedoch nicht gelang. Das führte dazu, dass die Türkei nach und nach ihre geostrategische Bedeutung verlor. Hätte die Türkei innere Stabilität erreicht, wären viele Entwicklungen möglich gewesen. Sowohl die Energieversorgung als auch der Handel und viele andere Dinge hätten sich verbessert. Aber das ist der Türkei nicht gelungen. Es lag vor allem daran, dass sie eine Lösung der kurdischen Frage, also des größten Problems der Türkei, nicht zugelassen hat. Sie war weder in der Lage, für Stabilität zu sorgen, noch die grundlegenden Probleme anzugehen, die es zu lösen gilt. Deshalb verliert die Türkei von Tag zu Tag an Bedeutung.


Erdoğan denkt immer noch in der alten Mentalität. Er glaubt, dass die Türkei ihre frühere Bedeutung noch immer bewahren und er deshalb allen seinen Willen aufzwingen kann. Auf diese Weise will er seine neoosmanischen Träume und die von ihm gewünschte Politik im Nahen Osten durchsetzen. Mit jedem Tag, der vergeht, verliert die Türkei jedoch sowohl ihre geostrategische Position als auch ihr globales Kapital. Mit dieser Mentalität kann die Türkei nur verlieren. Mit seinen chauvinistischen und neo-osmanischen Träumen verliert der türkische Staat nicht nur sich selbst, er schadet der gesamten Bevölkerung und insbesondere den Kurdinnen und Kurden. Leider bleibt er mit dieser Mentalität ein großes Problem für alle. Wegen dieser Politik distanzieren sich zunehmend auch die Hegemonialmächte. Solange die Türkei auf dieser Politik beharrt, wird sie verlieren. Denn diese Politik ist nicht mehr akzeptabel.

Die politischen Verhältnisse können sich ändern

Auch die Autonomieregion Nord- und Ostsyrien ist strategisch günstig gelegen. Viele Hegemonialmächte und regionale Staaten haben hier Pläne. Wie wird sich der laufende Krieg zwischen Israel und der Hamas Ihrer Meinung nach auf Syrien und Rojava auswirken? Inwieweit beeinflusst er insbesondere die aktuelle Politik von Erdoğan?

Viele Analysen deuten darauf hin, dass der israelisch-palästinensische Krieg das Ergebnis des Scheiterns der kapitalistischen Mächte ist, eine Einigung zu erzielen. Sie wollten die alte Seidenstraße über die Türkei und den Iran nach Europa öffnen. Dass wollten sowohl der Iran als auch die Türkei. Auf dem G20-Gipfel in Indien wollten sie jedoch diese Route ändern und sie durch die Golfstaaten, durch Saudi-Arabien, durch das Mittelmeer und von dort nach Griechenland führen, und sowohl die Türkei als auch der Iran wurden ausgegrenzt. Nun heißt es, die Türkei habe diesen Krieg begonnen, um die Verwirklichung dieses Projekts zu verhindern. In vielen Bewertungen, die jetzt gemacht werden, heißt es, die Türkei habe der Hamas den Befehl zum Angriff gegeben. Das Chaos im Nahen Osten soll damit vergrößert werden und an diesem Krieg ist die Türkei beteiligt.

Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass sich der Konflikt ausweitet. In einem solchen Fall werden auch der Libanon, Jordanien und Syrien in den Krieg verwickelt werden, es wird alles durcheinander sein. Wir wissen nicht, wer wo stehen wird. Die Position Syriens ist jedoch sehr wichtig. Das erste Projekt, das ich erwähnt habe, hat Syrien zum Beispiel außen vor gelassen. Das zuvor geplante Gaspipeline-Projekt in Nord- und Ostsyrien wurde nicht realisiert, obwohl Katar und weitere Länder es wollten. Wenn auch ihr anderes Projekt nicht zustande kommt, werden sie wieder auf Nord- und Ostsyrien zurückkommen. Aber wir wissen nicht, inwieweit sie sich auf dieses Projekt einigen können. Außerdem gibt es eine Sache, die sie nicht berücksichtigt haben: das kurdische Volk. In Nord- und Ostsyrien ist eine Verwaltung eingerichtet worden, und diese Verwaltung ist ein System. Heute können der Westen und alle Hegemonialmächte dieses System akzeptieren. Es wird eine Lösung mit sich bringen. Die regionalen Staaten Türkei, Syrien und Iran akzeptieren es jedoch nicht. Deshalb befinden wir uns immer noch im Krieg. Unser Kampf hat seine Bedeutung nicht verloren. Und wir hoffen, dass er sowohl für uns als auch für unsere Nachbarschaft Stabilität bringen wird. Meiner Meinung nach wird die Gaza-Frage jedoch viele Dinge verändern. Es besteht die Möglichkeit, dass sich der Krieg ausweiten wird und auf andere Staaten übergreift. Der Libanon könnte sich beteiligen, Ägypten und Jordanien könnten sich beteiligen. Es ist nicht klar, wo dieser Krieg enden wird. Aber alle Gleichgewichte im Nahen Osten werden sich ändern.

Erdoğan will sich zum Kalifen ausrufen lassen

Viele Staaten in der Welt sind Vorreiter der kapitalistischen Moderne, im Nahen Osten ist es die Türkei. Wie weit spielt die Türkei Ihrer Meinung nach diese Rolle?

Von 2002 bis 2013 hat Erdoğan die Projekte der Hegemonialmächte akzeptiert. Aber dann kam Eurasien ins Spiel. Eurasien will die Turkstaaten in einem großen Osmanischen Reich vereinen, ähnlich wie sich alle arabischen Staaten in der Arabischen Liga zusammengeschlossen haben. All diese Projekte sind jedoch geplatzt. Im Jahr 2013 hat der tiefe Staat Erdoğan vollständig übernommen. Seitdem hat sich seine Politik völlig verändert. Alle Projekte waren auf Erdoğan ausgerichtet. Erdogan begann jedoch, alles nach seinen eigenen Vorstellungen zu tun. Er nutzte dabei die geostrategische Lage der Türkei. Einerseits löste sich Erdoğan nicht von der NATO, andererseits baute er die Beziehungen zu Russland aus. All das tat er, um seine Macht zu erhalten. Seine internationalen Beziehungen nutzte er auch innenpolitisch. Was ist seine Innenpolitik? Die Vernichtung der Kurdinnen und Kurden. Die kurdische Frage soll nicht gelöst werden, er will alles beherrschen und es soll ein Staat der Muslimbrüder entstehen. Er hat sich also völlig verändert. Aber die kapitalistischen Kräfte und viele andere Kreise wollen Stabilität und Demokratie in der Türkei. Erdoğan ist jedoch weder zu Demokratie noch zu einer Lösung bereit. Er hat alles in den Dienst seiner eigenen Macht gestellt. Erdoğan will sich zum Kalifen ausrufen lassen. Erdoğan zu einem Kalifen oder Sultan zu machen, entspricht der Politik des tiefen Staates. Diese Politik hat die Türkei in den Bankrott getrieben. Wirtschaftlich kollabiert sie Tag für Tag. Ihr Geld hat keinen Wert mehr. Sie ist auf diplomatischer Ebene bankrott, und das gilt auch für die Politik. So sehr Erdoğan auch versucht hat, im Gaza-Krieg zu vermitteln, so sehr hat er sich immer weiter entfernt. Er hat die geostrategische Position der Türkei und das internationale Kapital für seine eigene persönliche Macht verloren. Er hat sie alle seinen eigenen Interessen geopfert. Er verliert immer noch und es ist nicht klar, wie lange das noch andauern wird. Die Türkei entfernt sich jeden Tag weiter von der Demokratie, nicht einmal die eigene Verfassung wird beachtet. Ich meine, wir sehen es jeden Tag: Journalisten werden verhaftet, Politikerinnen und Politiker werden verhaftet. Es gibt kein Rechtssystem mehr, Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte werden ignoriert. All das bereitet jedoch den Zusammenbruch der Türkei vor. Wir wissen nicht, wie lange es dauern wird, aber diese Politik wird schließlich den Untergang der Türkei herbeiführen.

Die Türkei verliert durch die ungelöste kurdische Frage

Die kapitalistische Moderne hat nirgendwo einen festen Platz. Sie benutzt Länder wie England, Frankreich und die USA für sich, aber sie selbst ist überall. Einer der Staaten, den sie benutzt hat, war die Türkei. Das Greater Middle East Project, das insbesondere nach den 1990er Jahren entwickelt wurde, war ein Projekt der kapitalistischen Moderne. Sie wollte den Nahen Osten nach ihren eigenen Maßstäben gestalten. Dabei stützte sie sich auf die Türkei. Die Türkei war sowohl ein regionaler Staat als auch ein Mitglied der NATO und verfügte über militärische Kräfte, die sie jederzeit einsetzen konnte. In diesem Sinne übernahm die Türkei die Rolle eines wichtigen Akteurs. Die Rolle der Türkei als Akteur war jedoch nicht die eines Politikers, sondern die eines Empfängers und Umsetzers von Anweisungen. Damals sagte Erdoğan sogar ganz offen: „Ich bin der Präsident dieses Projekts."

Der türkische Staat hat jedoch seine eigenen Krankhaftigkeit nicht aufgegeben. Die kurdische Frage steht dabei im Vordergrund. Die Eigentümer dieses Projekts wollten, dass die kurdische Frage innerhalb der Türkei gelöst wird, was der türkische Staat nicht akzeptierte. Es wurden Schritte wie die Gespräche in Oslo eingeleitet, es gab Gespräche mit dem kurdischen Repräsentanten auf Imrali. Abdullah Öcalan wollte dieses Problem wirklich lösen. Der türkische Staat hat jedoch seine Politik geändert und alle Lösungen zerstört. Dennoch haben die Kräfte der globalen, kapitalistischen Moderne ihr Projekt nicht aufgegeben. Sie wollen die Türkei nach und nach loswerden. Seit 1952 hat die NATO viele Abkommen mit der Türkei geschlossen. Sie rechnete beim Greater Middle East Project mit der Türkei. Natürlich hat die Türkei auch sehr von dieser Situation profitiert. Aber heute versuchen sie, die Türkei loszuwerden, denn der türkische Staat ist auch für sie ein Ärgernis. Er ist ein Hindernis für ihre Projekte. Als sie gemeinsam das große Nahostprojekt gründeten, gab es gegenseitige Versprechen. Damals wollte der türkische Staat, dass die Kurden nicht daran teilhaben. Im Nahen Osten leben 50 Millionen Kurdinnen und Kurden, wie können sie da außen vor bleiben? Sie haben ihre Existenz durch ihren Kampf bewiesen und sind dadurch zu einem Teil dieses Projekts geworden. Und Erdoğan will immer noch sagen, dass es keine Kurden gibt. Mit dieser falschen Politik hat er sowohl die Türkei als auch die ganze Region ins Hintertreffen gebracht. Sie hat auch den Fortschritt des von den Hegemonialmächten, den Kräften der kapitalistischen Moderne, geschaffenen Greater Middle East Project verhindert. Sie hat bis heute nur Hindernisse geschaffen. Aus diesem Grund kann man nicht mehr sagen, dass der türkische Staat Teil des von diesen Mächten geschaffenen Projekts ist. Im Gegenteil, er ist jetzt zu einem großen Problem für sie geworden.