Neun Menschen wurden getötet und mindestens 23 verletzt, als der türkische Staat am 20. Juli einen Picknickplatz in einem Dorf im südkurdischen Zaxo bombardierte. ANF hat mit dem kurdischen Politiker Salih Muslim, Ko-Vorsitzender der PYD in Nord- und Ostsyrien, über diesen Angriff gesprochen.
Bei einem türkischen Angriff auf eine Ferienanlage in Zaxo sind neun Menschen ums Leben gekommen und 23 weitere verletzt worden. Wie interpretieren Sie diesen Anschlag?
Der Angriff in Zaxo passt zum faschistischen Habitus des türkischen Staates. Es ist nicht der erste seiner Art, und wird vermutlich auch nicht der letzte sein. Der türkische Faschismus strebt die Entvölkerung Kurdistans an. Ob in Bakur (Norden), Başûr (Süden) oder Rojava (Westen) – in verschiedenen Orten Kurdistans ist dies bereits realisiert worden. Der türkische Staat will das kurdische Volk und andere Gemeinschaften ihrer angestammten Gebiete entreißen und diesen Raum für sich gewinnen. Der Angriff auf Zaxo ist somit nicht als außergewöhnlicher Vorfall einzuordnen, sondern als gezieltes Vorgehen. Er reiht sich ein in alle anderen Angriffe, die in Bakur, Başûr, Rojava und überall sonst mit äußerster Brutalität vom türkischen Staat durchgeführt werden. Weder ethische und moralische Normen noch internationale Gesetze werden respektiert, hierzu besteht gar kein Interesse. Bisher hat sich auch niemand dagegen positioniert und die Türkei aufgefordert, ihre Angriffe zu unterlassen. Alle schweigen. Das Handeln des türkischen Staates wird von der Maxime ‚Ich kann tun, was ich will‘ bestimmt. Das ist im Grunde eine Herausforderung für die ganze Welt und die Kurdinnen und Kurden. Es gibt niemanden, der sich ihm in den Weg stellt, und er glaubt, einen Freifahrtschein zu haben. Solange sich dem niemand entgegenstellt, wird es so weitergehen.
Wie ist dieser Angriff im Kontext des Dreiergipfels in Teheran kurz zuvor und der erneuerten Drohung einer weiteren Invasion in Nordostsyrien zu deuten?
An dem Gipfeltreffen war keine Seite beteiligt, die die Kurdinnen und Kurden vertritt. Es fand zwischen drei Kräften statt, die alle auf eigene Vorteile aus sind und sich weder um die Kurden scheren noch um Kurdistan. Daher gab es in Richtung Türkei auch keine Ansage. Sicherlich wird über Rojava oder Başûr gesprochen worden sein. Aber wenn niemand mit am Tisch sitzt, um die kurdische Seite zu repräsentieren, werden Entscheidungen zum Nachteil der Kurden getroffen. Und solange kein Wort für die Kurden und ihre Errungenschaften ergriffen wird, wird der Türkei auch nicht gesagt werden, wo der Hammer hängt. Sie tut, was sie will, und kommt damit durch. Gut möglich, dass die Gipfelmächte diesen Angriff sogar befürwortet haben.
Der Anschlag auf Zaxo rief weltweit Reaktionen hervor, vor allem in der Region selbst. Demgegenüber erklärte die Demokratische Partei Kurdistans (PDK), der Angriff sei durch den „Konflikt mit der PKK“ verursacht worden. PDK-nahe Medien gaben die Pressetexte des türkischen Verteidigungsministeriums unkritisch weiter. Wie sind die Versuche der PDK, den Angriff zu rechtfertigen, zu bewerten?
Der PDK nahestehende Kräfte sind in diesen Dreck verwickelt. Das ist keine neu erlangte Information. Sie haben sich bei einer Vielzahl von Massakern, Angriffen und auch im aktuellen Krieg in Südkurdistan an der Seite des türkischen Staates positioniert. Da das aber irgendwie verschleiert werden muss, werden Erklärungen aus Ankara übernommen und es wird Beistand demonstriert. Dabei steht die Verantwortung der Türkei für diesen Angriff absolut nicht zur Diskussion. Der Tatort liegt nicht weit von den türkischen Militärstützpunkten, aus denen geschossen worden ist. Würde man die Ermittlungen vertiefen, könnte zutage gefördert werden, warum diese Basen dort errichtet wurden und vor allem mit wessen Zustimmung. Die Türkei zieht einen Außenposten nach dem anderen auf südkurdischem Boden hoch und stockt ihre Truppenstärke permanent auf. Das muss untersucht werden. Wirklich echte Ermittlungen würden die Verantwortlichen all dessen und die Verbrechen der PDK-Kräfte offenlegen. Stattdessen verschleiern sie die Täterschaft des türkischen Staates, um sicherzustellen, dass ihr eigener Dreck nicht ans Licht kommt.
Doch das kurdische Volk, insbesondere die Bevölkerung in Başûr, ist sich dieser Dinge sehr wohl bewusst. Die Menschen lassen sich nicht mehr täuschen und sehen ganz deutlich, wer für welche Schuld aufzukommen hat. Wir reden hier davon, dass es Bemühungen gibt, einen Angriff wie den auf Zaxo mit einem vermeintlichen „Konflikt“ zu legitimieren, um dadurch die eigene Mittäterschaft zu verschleiern. Dabei entlarven sie ihre eigenen Lügen. Doch dieser Zustand wird nicht von Dauer sein. Selbst die irakische Zentralregierung und ihr Außenminister von der PDK können nichts verschleiern – allen sind die Fakten klar. Deshalb sind die Legitimationsbemühungen vergeblich.
Was erwartet Kurdistan und den Nahen Osten, wenn der türkische Staat, der auf eine lange Tradition der Massaker zurückblicken kann, nicht gestoppt wird?
Der türkische Faschismus spricht vom Osmanischen Reich und der Annexion ehemaliger Gebiete, als ob dies ein legitimer Akt wäre. Es ist die Rede von einer Invasion in Nordsyrien und der Vertreibung der Kurdinnen und Kurden aus ihrem Land. Warum die Kurden? Es geht nicht nur um die Kurden. Ein Blick in die Geschichte der türkischen Republik zeigt uns, dass dieser Staat auf den Schädeln anderer Völker errichtet worden ist; Genozide und Massaker an Armeniern, Syrern, Griechen. Jetzt will man den Kurden den finalen Garaus machen. Sie wollen alle vernichten, die sich ihnen in den Weg stellen und ihr Land und ihre Existenz verteidigen.
In vergleichbaren Kontexten wird sich am Beispiel von Adolf Hitler orientiert. Meiner Meinung nach übertreffen die neoosmanischen Fantasien die Ideen und Taten von Hitler. Die Türkei stellt nicht nur für ihr eigenes Volk eine Gefahr dar, sondern für die ganze Welt, wenn man die unausgesprochenen Probleme in der Ägäis, am Schwarzen Meer, in Armenien, Aserbaidschan und anderen Regionen bedenkt. Sie ist ein Aggressor und bedroht weite Teile der Welt. Ich denke, dass die NATO jetzt am Zug ist und ihrem türkischen Partner endlich klarmachen muss, dass er nicht nach seinen eigenen Regeln handeln darf. Die Türkei greift die ganze Welt mit NATO-Mitteln an, das sollte jetzt mal zumindest beendet werden. Andernfalls bewegt sich die Welt wegen der Aktionen Recep Tayyip Erdoğans an den Rand einer großen Gefahr.