Die Türkei greift trotz Waffenstillstandsabkommen mit Russland und den USA weiterhin großflächig die selbstverwalteten Gebiete in Nord- und Ostsyrien an und setzt damit ihre Bestrebungen nach einer Ausweitung der Besatzungszone unvermindert fort. Die Invasionstruppen konzentrieren sich nach wie vor auf ihren Vormarsch in Richtung M4. Der strategisch wichtige Verkehrsweg verläuft etwa 30 Kilometer entfernt von der türkisch-syrischen Grenze und führt von Aleppo bis Mosul im Nordirak. Von der M4 aus bestehen Verbindungsstraßen nach Damaskus und in die arabischen Länder. Mit der Einnahme dieser Straße, die eine wichtige Versorgungsroute darstellt, würde die Türkei ihren neoosmanischen Träumen näherkommen, ihre Außengrenzen auf alle anderen Städte im Grenzstreifen auszudehnen und Erdöl aus Kerkûk und Deir ez-Zor ans Mittelmeer zu transportieren. Außerdem ließe sich die Ansiedlung von Angehörigen der dschihadistischen Verbündeten des Erdogan-Regimes problemlos gestalten. In der besetzten Stadt Serêkaniyê (Ras al-Ain) nimmt die Siedlungspolitik der Türkei längst Fahrt auf. 1.500 Familien von Islamisten wurden bereits in die besetzte Stadt integriert. Die vertriebene Bevölkerung Serêkaniyês ist unterdessen notdürftig in öffentlichen Einrichtungen und Auffanglagern untergebracht.
Strategische Lage von Ain Issa
Die Kleinstadt Ain Issa an der M4 nimmt aufgrund ihrer relativen Nähe zur Stadt Raqqa und somit zum Tor nach Deir ez-Zor eine strategische Schlüsselposition in den Besatzungsplänen der Türkei ein. Regelmäßig kommt es dort zu Artillerieschlägen und Angriffen mit schweren Waffen auf bewohnte Gebiete und Siedlungen. Nach Angaben von Ronî Tolhildan, Kommandant der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD), stehen die Besatzungstruppen nördlich der Kleinstadt knapp drei Kilometer vor der Frontlinie. Westlich von Ain Issa liegt der Abstand nur noch bei zwei Kilometern.
„Es läuft darauf hinaus, die gesamte Verkehrsstraße einzunehmen. Die Dörfer Erîda, Dibis, Cehbet, Seyda, Mueleq, Bîr Riznar und Xirbit Beger werden fast pausenlos bombardiert. Der türkische Staat führt einen Eroberungsfeldzug in die Gebiete, die administrativ zur nordostsyrischen Autonomieverwaltung gehören. Es werden spezielle Methoden der Kriegsführung angewendet, die sich mit der Absicht, den demografischen Wandel der selbstverwalteten Regionen voranzutreiben, gegen die Zivilbevölkerung richten. Die Menschen werden terrorisiert“, sagt Tolhildan.
Zivilisten werden gezielt angegriffen
In Ain Issa und dem Umland wurde die Verteidigungslinie durch ineinandergreifende Sicherheitsmaßnahmen verstärkt, teilt der QSD-Kommandant mit. Auch alle Angriffswellen wurden bisher erfolgreich zurückgeschlagen. „Für den türkischen Staat gelten allerdings auch Methoden der Kriegsführung als legitim, die für uns und viele andere Kräfte moralisch und rechtlich geächtet sind. Die angestammte Bevölkerung wird vertrieben, um Platz für Dschihadisten zu machen. Für dieses Ziel schreckt die türkische Armee nicht davor zurück, Zivilisten gezielt aus der Luft zu bombardieren“, so Tolhildan.
Dschihadisten ergeben sich QSD
Unterdessen hat sich die Anzahl der Konflikte zwischen den verschiedenen Gruppierungen, die sich als Proxys der Türkei an der Invasion in Rojava beteiligen, erhöht. „Einige haben mittlerweile eingesehen, dass es dem türkischen Staat nur um die eigenen Interessen geht und die Milizangehörigen von Ankara in den sicheren Tod geschickt werden. Viele haben sich bereits von ihren Fraktionen losgelöst und uns ergeben“, berichtet Tolhildan.
Russland vermeidet Konfrontation mit türkischer Armee
Zur Präsenz syrischer Regimetruppen und russischen Militärs in Ain Issa gibt Tolhildan an, dass die Verteidigung in Koordination mit allen relevanten Kräften umgesetzt wird. „Das syrische Militär macht einen Bogen um das Zentrum von Ain Issa. Lediglich außerhalb der Kleinstadt sowie an der M4 und Dörfern entlang der Straße betreiben die Regimekräfte Checkpoints. Die Türkei und Russland legen großen Wert darauf, eine militärische Konfrontation zu vermeiden. Und die Streitkräfte des Regimes zeigen angesichts der Besatzungsangriffe keine Reaktion, solange diese nicht von Moskau abgesegnet wurde. Außerdem ziehen sie sich bei Angriffen der Türkei von ihren Fronten zurück.“
Trotzdem seien die QSD entschlossen, an ihrem Widerstand festzuhalten und bis zum äußersten zu gehen, sagt Tolhildan. „Wir werden niemandem unsere besetzten Gebiete einfach überlassen. Mit unserer Stärke und unserem Willen werden wir für die Freiheit unserer Heimat kämpfen.“