Leben unter der Bombardierung

Alle jungen Menschen aus den Grenzdörfern zwischen Raco und Bilbilê nehmen am Widerstand teil. Die alten Menschen harren trotz der Angriffe seit drei Wochen in den Dörfern aus.

Das ANF-Team in Efrîn ist über Raco Richtung Bilbilê gefahren und hat mit den Anwohnern in einem Dorf am Berg Kevirê Kêr gesprochen.

Die Fahrt zu den Dörfern im Grenzgebiet zwischen Raco und Bilbilê ist aufgrund der Artillerieangriffe nicht einfach zu bewältigen. Als wir das Zentrum von Raco erreichen, rät uns der Fahrer, uns gut festzuhalten, und drückt aufs Gas. Innerhalb von zwei Minuten haben wir das Zentrum wieder verlassen. Was wir in diesen zwei Minuten sehen, erscheint uns unglaublich.

Alle Geschäfte und Häuser an der Hauptstraße sind unter Beschuss gesetzt worden. Die Früchte des Obsthändlers liegen auf der Straße verstreut. Die Schaufensterschreibe des daneben liegenden Friseurs liegt auf dem Bürgersteig. Wir können kein einziges Gebäude ausmachen, das nicht beschädigt worden ist. Trotzdem dauern die Einschläge weiter an. Unser Fahrer sagt, dass das Zentrum allein heute von siebzehn Mörsergranaten getroffen worden ist. Als wir Raco verlassen, bleiben unsere Gedanken bei den Menschen, die immer noch in den Kellern der Stadt ausharren.

Unser Ziel ist ein Grenzdorf zwischen Raco und Bilbilê. Die Angriffe dort sollen noch heftiger als im Zentrum von Raco sein. Als wir erfahren haben, dass dort nach wie vor Zivilisten sind, wollten wir wissen, wie sie ihr Leben im Bombenhagel gestalten. Wir wollten von ihnen selbst hören, warum sie ihr Dorf nicht verlassen.

Widerstand gegen die türkische Barbarei

Nach zwanzigminütiger Fahrt erreichen wir das Dorf. An der Einfahrt werden wir von zwei etwa sechzigjährigen Männern empfangen, die dort Wache schieben. Mit herzlichem Lächeln fragen sie, wer wir sind.

Die beiden schieben freiwillig Wache, um ihr Dorf vor türkischen Soldaten und den protürkischen Milizen zu schützen. Sie freuen sich, als sie unsere Kamera sehen. Dieser Art von Freude sind wir in Efrîn schon häufiger begegnet. Wenn die Menschen eine Kamera sehen, kommen sie sofort an und schütten ihr Herz aus, ohne dass ihnen Fragen gestellt werden müssen. Alle wollen der Welt erzählen, wie sie gegen die türkische Barbarei Widerstand leisten und sich dabei ihre Menschlichkeit bewahren. Selbst die Kinder wissen, was hinter der türkischen Aggression steckt.

Olivenbäume und Weinberge

Mecid ist sechzig Jahre alt. Er ist einer von Hunderttausenden Menschen in Efrîn, die ihre Heimat lieben. Bevor die Angriffe des türkischen Staates begannen, habe er mit seiner Familie ein friedliches Leben im Dorf geführt, erzählt er. Mit dem Einkommen aus seinen Olivenbäumen und Weinbergen sei er glücklich und zufrieden gewesen.

Als die Angriffe anfingen, haben zwei seiner Kinder zu den Waffen gegriffen und sind auf den Kevirê Kêr gegangen, wo seit Tagen ein historischer Widerstand geleistet wird. Und Mecid hat mit seinen Altersgenossen begonnen, das Dorf zu verteidigen. Während er erzählt, strahlt er Entschlossenheit und Überzeugung aus.

Den Berg, auf dem seine Söhne sind, habe der Feind seit zwanzig Tagen nicht einnehmen können, sagt Mecid. „Der türkische Diktator Erdoğan greift nicht nur die YPG und YPJ an. Er greift uns alle an, unsere Frauen, unsere Alten, unsere Kinder und sogar unsere Tiere und unsere Natur. Auch meine drei Töchter sind an der Front. Der Krieg geht weiter, aber wir werden siegen. Wir werden unser Land und unsere Oliven nicht verlassen. Diesen Gedanken kann sich der Feind aus dem Kopf streichen.“

Bekir ist 68 Jahre alt. „Wenn der Feind hier einmarschiert, fragt er nicht, ob jemand alt oder jung, Frau oder Kind ist. Der Feind ist immer der Feind“, sagt er.

Das Leben geht weiter

Wir verabschieden uns von Mecid und Bekir und gehen weiter ins Dorf. Obwohl die gesamte Region seit drei Wochen bombardiert wird, geht das Leben im Dorf weiter. Das Wetter ist gut, die Menschen sitzen auf dem Dorfplatz vor ihren Häusern und unterhalten sich. Junge Menschen sind nicht zu sehen. Als wir nachfragen, sagen die Alten stolz, sie seien alle im Widerstand.

Wir wollen gerade aufbrechen, als wir dem Imam des Dorfes begegnen. Er sagt dasselbe wie alle anderen: „Wir haben es den QSD, YPG und YPJ zu verdanken, dass wir noch im Dorf sein können. Ich bete für sie.“

Auf dem Rückweg müssen wir eine andere Route einschlagen. Das Zentrum von Raco wird ununterbrochen von Granateinschlägen erschüttert. Vor unseren Augen brennt Raco, die Stadt, in der seit Jahrhunderten Armenier, Kurden und Araber zusammen leben.