Ahmed Sultan ist stellvertretender Generalkommandant der zu den Demokratischen Kräften Syriens (QSD) gehörigen Gruppe Jaish al-Thuwar (Armee der Revolutionäre). Er ist davon überzeugt, dass sich der türkische Staat in Efrîn und Şehba dauerhaft einrichten möchte und die Frist für den Abzug der Milizen aus der Pufferzone um Idlib verlängert wird.
Im ANF-Interview äußerte sich Ahmet Sultan zu den aktuellen Entwicklungen in Idlib, Efrîn und Minbic.
War Idlib von Anfang an ein Zentrum der Dschihadisten?
Nein. Im Jahr 2011 begannen die Volksaufstände in Syrien zunächst in Dara, dann in Idlib. Die Revolutionäre und die Bevölkerung, die sich 2011 erhob, hatten ehrliche Absichten. Frauen, Kinder, Junge und Alte, die gesamte Bevölkerung ging auf die Straße. Mit Beginn der Revolution in Syrien errang die FSA 70 Prozent Syriens. Die FSA war damals eine revolutionäre Kraft. Bis dann mit Hilfe der Türkei die islamistischen Kräfte auf der Bühne erschienen.
Die Türkei hat Mitte 2012 dschihadistische Gruppen aufgebaut. Mit ihrem Erscheinen kam die Revolution von ihrem Weg ab. Dann kamen die Al-Qaida-Gruppen nach Idlib. 2013 tauchte der IS in Syrien auf, 2014 drang er in Idlib ein. Die revolutionären Kräfte von Idlib bekämpften den IS und begannen mit einer zweiten Revolution. Sie vertrieben den IS innerhalb von sieben Tagen aus Idlib. Wir haben uns also gegen den IS gestellt und ihn zurückgedrängt.
Wie verwandelte sich Idlib dann von einer revolutionären Hochburg in eine von den Dschihadisten beherrschte Region?
Wir, also die Revolutionäre von Idlib und die Bevölkerung, haben mit reinen Absichten begonnen. Aber durch den Einfluss des türkischen Staates wurde die revolutionäre Haltung in der Gesellschaft in eine islamistische Richtung gelenkt. Da die revolutionären Kräfte diese Korruption der Revolution nicht hinnahmen, haben al-Nusra und anderen Gruppen ihnen den Krieg erklärt. Die FSA-Gruppen, die zuvor mit uns gemeinsam agiert haben, wurden nach dem Verrat bestimmter Personen ebenfalls ein Teil davon. Dieser Krieg fand auf Wunsch der Türkei und Katars statt. Sie zwangen uns, Idlib zu verlassen. Der IS und al-Nusra haben unsere Panzer, unsere Waffen, unsere Häuser, unser Geld, unseren persönlichen Besitz, also alles, was wir hatten, an sich genommen. Wir kamen nur mit unserem Leben davon.
Danach wurde von der Türkei unter Führung von al-Nusra das Bündnis Fatah al-Sham gegründet. Im Frühling 2015 entrissen sie dem Regime die Kontrolle über die ganze Region Idlib. Die Bevölkerung wurde extrem unterdrückt. Als Russland in Syrien eingriff, bombardierten das Regime und Russland Idlib aus der Luft. Die Zivilbevölkerung litt sehr unter diesen Angriffen. In Idlib sammelten sich die Kräfte von überall her. Sowohl ihre Grausamkeit gegenüber der Bevölkerung als auch die Luftangriffe des Regimes und Russlands verursachten großes Leid in der Zivilbevölkerung.
Um das zwischen der Türkei und Russland bestehende Idlib-Problem zu lösen, wurde in Sotschi ein Abkommen geschlossen. Die im Abkommen genannte Frist zum Abzug der Milizen aus der vereinbarten Pufferzone ist am 15. Oktober abgelaufen. Wurde das Ultimatum umgesetzt?
In Sotschi wurde ein Abkommen über eine demilitarisierte Zone geschlossen. Russland und die Türkei haben sich auf bestimmte Punkte geeinigt. So konnte das syrische Regime in Ghouta und Dara wieder die Kontrolle erlangen. Das Abkommen von Sotschi ist nicht im Interesse der Bevölkerung, sondern für den Vorteil des Assad-Regimes geschlossen worden. Dem Abkommen entsprechend sollen alle schweren Waffen aus einem 20 Kilometer breiten Streifen abgezogen werden.
Das Abkommen wurde jedoch nicht wie vereinbart umgesetzt. Die türkeitreuen Gruppen haben das Abkommen zwar akzeptiert, sich aber real nicht bewegt. Der 15. Oktober, die Deadline zum Rückzug der schweren Waffen aus der Region, ist verstrichen. Aber die Waffen wurden nicht abgezogen. Hayat Tahrir al-Sham (HTS) hat sogar erklärt, das Sotschi-Abkommen und den Abzug der Waffen nicht zu akzeptieren. Einige Al-Qaida-Gruppen haben sich zusammengeschlossen und ein Operationszentrum gegründet. Auch sie haben das Abkommen nicht akzeptiert.
Was wird also in den nächsten Tagen in Idlib passieren?
Es sieht so aus, als ob die Frist verlängert wird. Das Regime scheint nicht über die Kraft zu verfügen, jetzt eine Operation gegen die Al-Qaida-Kräfte durchzuführen. Auch die politischen Machtverhältnisse sehen nicht danach aus. Hinter den Kulissen bewegt sich einiges im Geheimen. Wir wissen jedoch, dass die Staaten, die Sotschi unterstützen, also insbesondere die Türkei, Russland und der Iran, die FSA-Gruppen zu überzeugen versuchen und das Verhältnis zwischen ihnen und dem syrischen Regime zu verbessern. In der nächsten Zeit könnten sich alle Kräfte, die Sotschi nicht unterstützen, vereinen und gegen die jeweils anderen kämpfen. Meiner Meinung nach werden die radikal-islamischen Milizen so agieren, wenn es zum Krieg kommt und sie in die Ecke gedrängt werden.
Zunächst kann es zu einem Krieg zwischen HTS und der „Nationalen Befreiungsfront“ kommen. Die Nationale Befreiungsfront ist direkt an die Türkei angebunden und war die erste Gruppe, die Sotschi akzeptiert hat. Wenn es zu diesem Krieg kommt, wird der türkische Staat die Situation beobachten und manche islamistischen Gruppen unterstützen. Vielleicht werden auch einige Gruppen überredet, sich in Regionen wie Efrîn oder Şehba zurückzuziehen. Diese Möglichkeit besteht ebenfalls.
In der letzten Zeit sind hochrangige HTS-Kommandanten in Idlib ermordet worden. Niemand bekennt sich dazu. Was passiert da Ihrer Meinung nach?
Ja, es werden täglich mindestens drei Kommandanten umgebracht, manchmal sind es auch zehn. Die Mehrheit dieser Attentate wird verheimlicht. Es geht dabei nicht nur um HTS oder al-Nusra, die Kommandanten der übrigen dschihadistischen Gruppen werden ebenfalls ermordet. Soweit wir das beurteilen können, handelt es sich bei den HTS-Kommandanten und den Kommandanten der anderen Gruppen um Personen, die sich gegen Sotschi gestellt haben. Deswegen werden sie ermordet. Dahinter steht hauptsächlich die Türkei.
Als Jaish al-Thuwar haben Sie am Widerstand von Efrîn teilgenommen und gegen den türkischen Besatzerstaat gekämpft. In Ihrer Bewertung der möglichen Entwicklungen in Idlib haben Sie gesagt, die dortigen Milizen könnten dazu überredet werden, nach Efrîn zu gehen. Wurden schon zuvor Milizen aus Idlib nach Efrîn abgezogen?
Als wir durch das Komplott mit dem türkischen Staat mit Gewalt aus Idlib vertrieben wurden, sind einige Gruppen in die Türkei gegangen. Wir haben es nicht getan, denn wir kennen die Realität der Türkei. Stattdessen sind wir damals nach Efrîn gegangen und haben uns dort reorganisiert. Wir haben als eine der Hauptkräfte an der Befreiung einiger Gebiete in Şehba aus den Händen des IS teilgenommen und ungefähr 75 Dörfer befreit. In dieser Zeit hat der türkische Staat uns angegriffen, um den IS zu schützen. Deswegen konnten wir nicht alle Gebiete in Şehba befreien.
In Efrîn und den befreiten Gebieten herrschte ein demokratisches Leben. Die Völker lebten friedlich zusammen. Es gab hunderttausende Schutzsuchende. Der türkische Staat hatte sich die Besetzung der Region in den Kopf gesetzt und Efrîn angegriffen. Wir als Jaish al-Thuwar haben gemeinsam mit den anderen Kräften der QSD Schulter an Schulter gegen die grausame Invasion der Türkei in Efrîn Widerstand geleistet. Wir hatten dort Gefallene. Der türkische Staat hat bei diesem Angriff alle möglichen Regeln des Menschen- und des Kriegsrechts gebrochen. Eine gezielte demografische Veränderung wurde zunächst in Ghouta vollzogen, jetzt werden diese Grausamkeiten in Efrîn umgesetzt.
Wir stehen in ständigem Kontakt mit Idlib. Nach uns vorliegenden Informationen hat der türkische Staat mehrere HTS-Gruppen und auch einen Teil der dschihadistischen Islamischen Partei Turkestans (TIP) nach Efrîn gebracht. Jetzt versucht er, die anderen Gruppen ebenfalls davon zu überzeugen, in Gebiete wie Efrîn oder Şehba zu gehen. Der türkische Staat will dauerhaft in Efrîn und Şehba bleiben. Wenn er es schafft, will er auch Idlib behalten. Ich lade die UN, die EU und alle Menschenrechtsorganisationen dazu ein, das Geschehen in Efrîn zu untersuchen.
Im Moment nehmen Sie als Jaish al-Thuwar an der Verteidigung von Minbic teil. Wie bewerten Sie die Drohungen des türkischen Staates gegen die Stadt?
Wir sind eine syrische Kraft, die aus Kämpfern vor allem aus Idlib, Hama und Homs besteht. Wir haben in Idlib, Şehba, Tishrin und Raqqa gegen den IS gekämpft. Wir waren Teil der Verteidigung von Efrîn. Nach der Besatzung von Efrîn sind wir als revolutionäre Kräfte nach Minbic gegangen. Wir sind nun Teil der Verteidigung von Minbic.
Der türkische Staat führt einen Spezialkrieg gegen die Gesellschaft Nordsyriens und die Einwohner von Minbic. Ein Einmarsch der FSA und der türkischen Armee in Minbic ist jedoch unmöglich.
Der Krieg in Syrien dauert nun schon acht Jahre. Die Bevölkerung Syriens ist sehr müde. Sie hat den Tod, die Zerstörung und den Krieg satt. Wir rufen alle politischen Institutionen und Kreise auf, wir müssen auf alle Gruppen Druck ausüben und Lösungen im Interesse der Völker Syriens finden. Die Bevölkerung will Sicherheit und ein Ende des Krieges. Sie hat mit dem Blut ihrer Kinder die Rechnung für diesen Krieg bezahlt. Es kann keine militärische Lösung geben, sondern nur eine politische. Jedes Bevölkerungsgruppe soll an diesem Lösungsprozess teilhaben.