Als der IS im Spätsommer 2014 vor den Toren Kobanês stand, zog Viyan Çiyazan wie viele andere junge Frauen an die Fronten der YPJ (Yekîneyên Parastina Jin), um die Stadt zu verteidigen. Auch nach dem Sieg von Kobanê blieb sie, um den Kampf fortzusetzen. Viyan Çiyazan ging nach Raqqa und beteiligte sich an der Befreiungsoffensive. Dort wurde sie verletzt und ist seitdem querschnittsgelähmt. Wir haben mit der Kämpferin über den Widerstand von Kobanê, die Bedeutung der Aufstände in Nordkurdistan und die Folgen des Siegs über den IS gesprochen.
Wie kamen Sie zum Widerstand von Kobanê?
Im September 2014 griffen die brutalen Söldner des IS mit Schützenhilfe des türkischen Staates die Stadt Kobanê an. Menschenrechte wurden bei diesen Attacken außer Kraft gesetzt. Der IS wollte einen „Staat“ nach seinem eigenen Islam-Verständnis und die Herrschaft über den Mittleren Osten erringen. Als aber der Widerstand von Kobanê losbrach, breitete sich dieser auf die ganze Welt aus und formte eine massive globale Solidaritätsbewegung.
Als kurdische Frau wollte ich mich diesem Widerstand anschließen und wie jeder Mensch mit einem Gewissen diese würdevolle Pflicht erfüllen. Deshalb ging ich an die Front und schloss mich dem Kampf um Kobanê an. Das erste, was wir taten, war die Parolen „Bijî Serok Apo“ und „Bijî Berxwedana Kobanê“ zu rufen. Dann, als sich die Kämpfe intensivierten, nahm ich meine Waffe in die Hand und ging ins Gefecht. Wir alle waren sehr aufgeregt. Wir gaben unser Wort, Kobanê zu befreien.
Wie kam es, dass sich die Verteidigung Kobanês zum Volksaufstand entwickelte und tausende Menschen in Nordkurdistan die Grenzen überwanden und sich anschlossen? Was war für den Sieg ausschlaggebend?
Mit dem Beginn der Angriffe auf Kobanê strömte die Bevölkerung im Norden im Geiste eines Aufstands an die Grenze, um die Stadt des kurdischen Frühlings, Kobanê, zu verteidigen. Von jung bis alt – diese Solidarität riss bis zum Sieg nicht ab. Bei Angriffen des türkischen Regimes auf die Unterstützungsaktionen sind 37 Menschen gefallen.
Besonders nach dem Aufruf zur Mobilisierung für Kobanê formierten sich junge Menschen aus dem Norden zu Hunderten zu menschlichen Schutzschilden und wendeten ihre Gesichter Kobanê zu. Als Kämpferinnen und Kämpfer waren wir voller Freude und Aufregung, als wir die gewaltige Unterstützung unseres Volkes an der Grenze sahen. Dank des Widerstands dieser Menschen nahmen unsere Moral und unsere Motivation noch weiter zu. Alle, die rund um die Uhr an der Front kämpften, die tagelang nicht schliefen, die nichts essen konnten, erhielten trotz all dieser Schwierigkeiten eine unglaubliche Energie von unserem Volk an der Grenze. Diese Kraft führte zum epischen Widerstand von Kobanê.
Wenn neben uns eine Weggefährtin oder ein Weggefährte fiel, erneuerten wir unser Versprechen, Kobanê zu befreien. Die Herzen von Millionen schlugen für Kobanê. Dank der Mühen und Opfer selbstloser Gefallener wurde in Kobanê ein Sieg errungen. Die Kraft und den Willen, diesen Sieg zu erringen und zu bewahren, haben wir selbstverständlich von Rêber Apo (Abdullah Öcalan, ANF) erhalten. Natürlich spielte auch der Einsatz von Frauen aus der ganzen Welt, von sozialistischen und internationalistischen Menschen von überall her, die an der Widerstandsfront ihren Platz einnahmen, eine entscheidende Rolle. Die Unterstützung aller Menschen in Kurdistan, insbesondere aus dem Norden, hat ebenso zum Sieg beigetragen.
Als sich die Niederlage des IS in Kobanê abzeichnete, ging der türkische Staat mit einer Inhaftierungswelle gegen die Protestierenden vor. Woran lag das Ihrer Meinung nach?
Beim Angriff auf Kobanê waren der IS und das AKP/MHP-Regime Komplizen. Mit diesem Angriff wollten sie einen Genozid am kurdischen Volk verüben. Es sollten schwarze Fahnen über Kobanê wehen. Der Widerstand der YPG und YPJ und die Unterstützung der Bevölkerung Nordkurdistans vereitelten diese Pläne. Man kann also sagen, dass mit Kobanê die Würde der Menschheit bewahrt wurde. Als Erdoğan, der Chef dieser faschistischen Bande, sagte, Kobanê sei gefallen, gaben ihm die kurdischen Mütter mit ihren Trillern und die Jugend, die den Grenzzaun durchtrennte und nach Kobanê stürmte, die passende Antwort. Erdoğans faschistische Träume wurden zerschmettert.
Der türkische Staat hatte erwartet, die IS-Angriffe würden das kurdische Volk auslöschen. Seine Pläne scheiterten und das IS-Projekt flog ihm um die eigenen Ohren. Vor den Augen der gesamten Welt hatte die türkische Führung den IS gefördert. Als er besiegt wurde, erlitt das Regime ein regelrechtes Syndrom und griff das kurdische Volk und seine politische Vertretung brutal an. Es wollte sich auf diese Weise für seine Niederlage in Kobanê an der HDP und kurdischen Politikern rächen. Auf Grundlage des sogenannten Kobanê-Verfahrens sind 108 Abgeordnete und Verfechter:innen der Demokratie angeklagt worden.
Was denken Sie über die Absichten hinter dem Verfahren?
Mit diesem Verfahren soll die HDP liquidiert werden. Es ist das faschistische AKP/MHP-Regime, das strafrechtlich verfolgt werden sollte, nicht die HDP. Denn es war dieses Regime, das durch seine Schützenhilfe für den IS dunkle Wolken über der Menschheit aufziehen lassen wollte. Diese Haltung sollte in Europa vor Gericht kommen. Die HDP hat ihre Pflicht im Kobanê-Widerstand erfüllt. Sie hat sich gegen den IS gestellt, der mit seinem konstruierten Islamverständnis die Werte der Menschheit zu vernichten sucht. Es ist die Politik der AKP und MHP, die verurteilt werden muss. Was wollen sie von der HDP, die für Einigkeit, Freiheit und Gleichheit kämpft?
De facto ist es so, dass stellvertretend für die kriminalisierten kurdischen Politikerinnen und Politiker alle demokratisch und freiheitlichen Menschen und vor allem kämpferische Frauen vor Gericht stehen. Das Kobanê-Verfahren ist konstruiert worden, um die HDP als Terrorunterstützerin zu diffamieren und sie durch ein Komplott zu vernichten. Das Regime weiß nur zu genau, dass die HDP Licht ins Dunkel der schmutzigen Regierungspolitik gebracht hat. Alle Verfechter:innen von Freiheit und Demokratie, unser Volk, das sich an der Grenze als menschliche Schutzschilde aufbaute, sollten sich solidarisch zeigen mit der HDP und sie unterstützen. Sie sollten in Daueraktion sein, um ihre gewählten Abgeordneten vor diesem Komplott zu retten.
Gibt es etwas, das Sie noch sagen wollen?
Seit Jahren träumen der türkische Staat und die NATO-Mitgliedsländer davon, ihr Ziel zu erreichen und die Freiheitsbewegung zu vernichten. Es ist jetzt 2021 und sie haben sich diesen Traum noch immer nicht erfüllen können. Die Freiheitsbewegung setzt ihren Kampf heute stärker denn je fort. Der türkische Faschismus versucht das kurdische Volk und die Freiheitsbewegung mit Hilfe des MIT und verschiedenen Verrätern zu liquidieren. Mit den Erfolgen von Heftanîn und Gare wurde den rassistischen Träumen des türkischen Staates ein jähes Ende gesetzt. Das Regime erlitt politisch, militärisch und ökonomisch massive Verluste. Der AKP/MHP-Faschismus, der nicht aufhören konnte, mit seiner Technik zu prahlen, scheiterte mit dieser am Gare-Widerstand.
Seit dem 23. April 2021 greifen diese Truppen Metîna, Zap und Avaşin an. Was für ein Zufall, dass dieser Angriff kurz vor dem Jahrestag des Völkermords an den Armeniern begann. So soll die Botschaft ausgesendet werden, dass sie uns genauso wie die Armeniern abschlachten wollen. Die Angriffe auf die Guerillagebiete dürfen nicht getrennt von Angriffen auf andere Teile Kurdistans betrachtet werden. Denn sie sind genau geplant und Teil einer Serie von Attacken in ganz Kurdistan. Natürlich werden diese Angriffe gemeinsam mit der PDK und den USA durchgeführt. Diese Kräfte greifen an, weil sie sehen, dass die PKK ein Hindernis für ihre rassistische und machtorientierte Denkweise darstellt.
Die Völker des Mittleren Ostens sollten nicht vergessen, dass ihre Rettung nicht in den Staaten, sondern in den Ideen der PKK liegt. Die Guerilla beherrscht modernste Kriegsttaktiken und ist geschult in der Ideologie von Rêber Apo. Sie wird die Pläne der Staaten durchkreuzen. Alle Völker, insbesondere das arabische Volk, sollten den türkischen Staat verurteilen, diese Angriffe nicht akzeptieren und den Guerilla-Widerstand unterstützen.