Idlib: Die vergessene Stadt

Aufgrund der Verleugnungspolitik des Regimes ist die Stadt so stark vernachlässigt worden, dass Idlib der Name „die vergessene Stadt“ gegeben wurde.

Kommentar von Ilham Ahmed – Ko-Vorsitzende des Demokratischen Syrienrates: In Idlib findet im Moment ein Krieg hoher Intensität statt. Etliche bewaffnete Gruppen aus Syrien haben sich dort versammelt. Jabhat al-Nusra ist dort sehr stark organisiert, aber das [syrische] Regime, Russland und der Iran bereiten die Besatzung der Region fort. Andererseits bereitet sich das türkische Militär darauf vor in die Stadt einzudringen. Innerhalb der letzten sieben Jahre sind sehr viele Menschen in die Region geflohen. Wir können erkennen, dass das Regime die Stadt vergessen hat. Die Demografie dort hat sich derartig verändert, dass die dort lebende Bevölkerung einander nicht mehr kennt.

Aufgrund der Verleugnungspolitik des Regimes ist die Stadt so stark vernachlässigt worden, dass Idlib der Name „die vergessene Stadt“ gegeben wurde. Dies ist eine für die Bevölkerung sehr schmerzhafte Bezeichnung und sicherlich ein Grund dafür, dass diese Stadt einerseits oppositionell ist und andererseits gegen das Regime Widerstand leistet. Die große Mehrheit war in Jabhat al-Nusra, ein kleinerer Teil in der Opposition organisiert. Die Bevölkerung glaubt stark an den Wandel. Sie wollten einen Regimewechsel, dass das alte besiegt wird. Als die Opposition die Linie der Vergeltung verlassen und sich in den Dienst anderer Kräfte gestellt hat, führte dies zu einer großen Desillusionierung in der Bevölkerung. Deshalb entstand neben dem Wunsch nach dem Ende des Regimes, der Wunsch sich von den bewaffneten Gruppen und Al-Nusra zu befreien. Sie hatten der Türkei geglaubt aber feststellen müssen, dass die Türkei sie an das Baath-Regime verkauft hat. Jetzt sind sie wieder auf der Flucht. In dieser so vernachlässigten Stadt findet heute der heftigste Krieg statt.

Die Region ist im Fokus großer Ambitionen. Es ist offensichtlich, dass die Entscheidung von Astana in Idlib gescheitert ist. Die Wahrheit ist mittlerweile für alle offensichtlich. Die Türkei wollte Russland und den Iran betrügen – Russland und Iran wollten die Türkei betrügen. Aber es liegen eigentlich gar nicht mehr die Bedingungen für solch gegenseitige Betrugsversuche vor. Denn die Lage in Idlib ist offensichtlich. Es gibt keinen Raum mehr für Manöver. Es ist nur noch Idlib da. So Fallen die Masken. Die Pläne aller Seiten sind klar. Deshalb wächst der Preis der großen Pläne und Ambitionen.

Wird Jabhat al-Nusra vernichtet oder wird sie widerstehen? Das was man im Moment sieht, ist, dass Jabhat al-Nusra in eine Zusammenarbeit mit dem Regime getreten ist. Sie übergeben ihm von ihnen kontrollierte Regionen ohne Widerstand. Das ist der Grund, warum das Regime sehr schnell vorrücken konnte.

Das türkische Regime hat große Hoffnungen in der Provinz Idlib. Sie haben immer noch den Traum, in Efrîn einzumarschieren. Jeden Tag wird dieser Plan aktualisiert und auf die Tagesordnung gesetzt. Durch diese Bedrohung werden alle beschäftigt. Zuerst erzählten sie, sie würden gegen Jabhat al-Nusra in den Krieg ziehen. Deswegen haben sie sich mit allen verständigt. Aber statt Jabhat al-Nusra zu bekämpfen, haben sie Efrîn umzingelt.

Jetzt fürchten sie einen Einmarsch des Regimes. Aber ihre größte Angst ist, dass sich dort eine demokratische Region bildet. So wenig es einen Plan der Kurd*innen gibt einen Zugang zum Mittelmeer zu bekommen, versuchen sie den Eindruck bei allen zu erwecken, die Kurd*innen hätten eben diese Ambitionen. Und sie stellen sich als Kämpfer dagegen dar. Mit diesem Diskurs versuchen sie ihre Präsenz in Syrien zu rechtfertigen. Sie wollen sich festsetzen. Nach Idlib gibt es keinen Grund mehr für die Türkei in Syrien zu bleiben. Die Tore Syriens könnten geschlossen werden und die Türkei kann das Land verlassen. Das aber will die Türkei nicht. Jabhat al-Nusra sieht dies als ihre letzte Stellung.

Und das Regime will wie früher ganz Syrien unter seine Kontrolle bringen. Was schon offensichtlich ist, der Krieg in Idlib wird zäh. Das ist eine neue Tragödie für die Bevölkerung Syriens. Wir wissen nicht, welchen Einfluss Sotschi und Astana danach noch haben werden. Astana wurde sowieso aus dem Grund begonnen, um die Gebiete in den Händen der bewaffneten Gruppen zu retten. Sotschi wird zur Legitimierung des Regimes und für dessen Erfolg durchgeführt. Das Regime hat durch die Unterstützung Russlands enorm an Gewicht gewonnen. Doch bis jetzt wurden zehntausende Zivilist*innen umgebracht. Die Bombardierung von Idlib kann weiter zum Tod von vielen Zivlist*innen, vor allem auch Kindern führen.

Im gesellschaftlichen Gewissen werden schwere Wunden aufgerissen. Wer wird diese Wunden lindern und behandeln? Es gab eine kriegerische Offensive nach der anderen. Jede dieser Offensiven wurde im Namen einer anderen Gruppe durchgeführt.

Mit der neuen Situation im Iran kam es zu Veränderungen. Der Iran möchte seine Stellungen in Syrien nicht aufgeben. Aber ob diese so sicher sind wie früher, ist unklar.

Und wie es mit dem Regime weitergeht, ist auch nicht klar. Sotschi kann als ein Erfolg des Regimes bezeichnet werden, aber was ist das Maß für diesen Erfolg? Wie soll er gemessen werden? Wenn man einen Erfolg mit Blut, Zerstörung, Hass und Furcht misst, was ist das dann für ein Erfolg? Das kann niemals als ein Erfolg bezeichnet werden. Im Gegenteil – es ist eine Niederlage.

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