Hunderttausende Geflüchtete in Efrîn vom türkischen Staat bedroht

Im Gespräch mit ANF appellieren Schutzsuchende in Efrîn an die internationale Gemeinschaft, dringend etwas gegen die Angriffe der Türkei zu unternehmen.

Seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs sind Hunderttausende Vertriebene nach Efrîn geflüchtet und wurden dort aufgenommen. Im Moment befinden sich 282.000 Schutzsuchende dort. Im Gespräch mit ANF appellieren die Schutzsuchenden in Efrîn an die internationale Gemeinschaft, dringend etwas gegen die Angriffe der Türkei zu unternehmen.

Der türkische Regimechef Erdoğan versucht seinen Angriffskrieg und seine Besatzungsoperation auf Efrîn unter anderem damit zu rechtfertigen, dass er dort Flüchtlinge unterbringen werde. Dabei ist Efrîn schon lange einer der wenigen sicheren Orte in Syrien. Nach Efrîn kamen von Beginn des Syrienkrieges an Hunderttausende Menschen, um dort Schutz zu suchen.

Obwohl Efrîn von vier Seiten eingeschlossen ist und trotz der Angriffe des türkischen Staates, nimmt der Kanton Efrîn auch weiterhin Schutzsuchende auf. Nach Angaben des Rates für gesellschaftliche Arbeiten im Kanton Efrîn befinden sich derzeit etwa 282.000 Schutzsuchende in Efrîn. ANF konnte die Flüchtlingscamps Rûbar und Şehba in der Region Efrîn besuchen und über die Situation dort berichten.

Sichere Gebiete

Trotz des Embargos und der Blockade des Kantons können die Schutzsuchenden mit Brot und Nahrung versorgt werden, die Kräfte der Asayîş sorgen für die Sicherheit der Menschen und es wird sich bemüht die Bildung der Kinder in den neu eröffneten Schulen fortzusetzen. Leider musste der Unterricht wegen der Angriffe des türkischen Staates unterbrochen werden. Heyva Sor a Kurdistan hat im Camp mobile Gesundheitszentren eingerichtet. Die Bewohner*innen der Camps organisieren sich selbst in Kommunen und die Selbstverwaltung des Kantons unterstützt die Campbewohner*innen so gut es geht, indem sie versucht die geistigen wie auch materiellen Bedürfnisse abzudecken. In diesem Zuge wurden auch Gebetsorte in den Camps eingerichtet.

„Die vom türkischen Staat unterstützten Milizen haben unsere Häuser zerstört“

Die vielen tausend Flüchtlinge in den Rûbar- und Şehba-Camps kommen aus Aleppo, Dera, Deraya, Homs, Şehba und Dêra Zor. Sie werden nun auch hier in Efrîn wieder zu Opfern von Luftangriffen – diesmal durch die Türkei. Die Flüchtlingscamps Rûbar und Şehba waren mit die ersten Ziele, die der türkische Staat bei seiner Besatzungsoperation mit seiner Luftwaffe angriff. Mehrere Bewohner*innen der Camps erzählen uns, dass sie fliehen mussten, weil von der Türkei unterstützte Milizen ihre Häuser zerstört hätten. Nun würden sie hier erneut zum Ziel der Angriffe des türkischen Staates.

„Der türkische Staat beschießt unser Camp“

Der aus dem Dorf Ûm El Xoş in der türkeikontrollierten Şehba-Region geflohene arabische Bewohner des Şehba-Camps Hemet el Hemet erklärte, dass er wegen der Milizen fliehen musste. „Wir sind hierhergekommen, weil Efrîn sicher war und die Menschen hier sehr gut sind. Seit vielen Tagen beschießt nun der türkische Staat die Umgebung des Camps; wir fürchten uns“, so Hemet

„Sie tun für uns, was in ihren Möglichkeiten steht“

Der Geflüchtete aus Şehba, Nedim Oso erzählt, dass er von Beginn an die volle Unterstützung der Bevölkerung von Efrîn erfahren habe und erklärt Folgendes: „Efrîn hat den Menschen die Arme geöffnet, wir sind an die Seite guter Menschen gekommen. Hier gab es keinen Krieg. Wir sind jetzt eineinhalb Jahre hier. Jetzt greift der türkische Staat uns genau wie zuvor der IS an. Ich möchte meine Stimme an das türkische Volk richten: Welches Recht habt ihr hier über Efrîn? Die Türkei hat ganz Syrien zerstört, soll jetzt Efrîn dran sein? Unsere Freunde [Hevals] schützen uns hier, an ihrer Seite fühlen wir uns sicher. Sie versuchen uns in jeglicher Form der Unterstützung, die ihnen zur Verfügung steht, zu helfen.“

„Die Türkei ist verantwortlich für die Zerstörung in Syrien“

Und Oso fährt fort: „Die Völker Syriens werden ihr Land um keinen Preis verlassen. Sie bezeichnen unser Volk als Terroristen, aber die eigentlichen Terroristen sind Erdoğan und seine Banden. Wenn es nicht Erdoğans Banden wären, dann hätte er sie nicht nehmen und mit ihnen Efrîn angreifen können. Wohin auch immer der türkische Staat seine Hand ausstreckt, sei es Tunesien oder Libyen, er richtet Zerstörung an. Das Gleiche hat er auch in Syrien getan. Jetzt will er auch noch Efrîn zerstören. Hier leben eine Million Menschen!“

„Wir sind Opfer von Angriffen des türkischen Staates“

Wir sprachen ebenfalls mit Hamdul El Saim. Er war mit seiner 20-köpfigen Familie vor dem IS aus Homs geflohen. „Wir sind aus dem zu Homs gehörigen Dorf Vadi El Azim hierhergekommen. Unser Dorf war einen Monat lang vom IS umzingelt. Einen Monat haben wir gehungert und nur Weizen gegessen. Wir dachten, wir würden sterben, aber wir konnten im letzten Moment fliehen. Ich bin gemeinsam mit meiner 20-köpfigen Familie vor den Banden ins sichere Efrîn geflohen und wir haben uns in diesem Camp niedergelassen. Nun werden wir seit 20 Tagen pausenlos vom türkischen Staat angegriffen und fürchten erneut um das Leben unserer Kinder.“

„Wir sind mit sieben Personen hierhergekommen“

Als wir ins Rûbar-Camp kamen, hörten wir, dass ein Zelt Feuer gefangen hatte. Wir gingen dorthin. Das Zelt gehörte Fatme El Hiseyn, die aus dem Dorf Tell Meksûr bei Aleppo geflohen war. Fatime El Hiseyn erklärte, dass ihr Partner gestorben sei. Weiter erzählte sie: „Der Ofen hat unser Zelt verbrannt. Jetzt reparieren wir das Zelt. Es gibt sehr viele Dinge, die hier im Camp nötig wären, aber es ist Krieg. Der türkische Staat greift an und daher kann die Versorgung nicht gewährleistet werden. Mein Mann ist gestorben, ich habe meine Familie, sieben Personen, genommen und bin hierhergekommen.“

„Das Volk von Efrîn hat uns auf jede Art und Weise unterstützt“

Im Rûbar-Camp trafen wir den arabischen Campbewohner Casim El Abduli aus Aleppo, er wollte uns unbedingt über die Angriffe auf das Camp berichten. „Nach dem Angriff der Terroristen auf Aleppo waren wir gezwungen zu fliehen und sind nach Efrîn gekommen. Denn hier sind die Menschen gut und es gab keinen Krieg. Sie haben uns auf jede Weise unterstützt.“ Er fügt hinzu: „Aber vor zwanzig Tagen hat der türkische Staat mit seinen Angriffen begonnen. Das Camp, in dem Zivilbevölkerung lebt, haben sie zunächst aus Flugzeugen angegriffen und jetzt bombardieren sie hier die Umgebung mit Artillerie. Unsere Kinder sind nicht in Sicherheit. Ich richte mich an alle Staaten, sie sollen den Angriff des türkischen Staates auf die Zivilbevölkerung stoppen. Ich richte mich an die Menschenrechtsorganisationen, sie sollten uns unterstützen.“

„Hier sind Zivilisten, die vor dem Krieg geflohen sind“

Hesen Şuşen, ebenfalls aus Aleppo berichtet, dass türkeitreue Milizen sein Haus zerstört hätten und er seit zwei Jahren im Rûbar-Camp lebe. „Das hier war für uns als Flüchtlinge ein sicherer Ort. Deshalb sind wir hierher geflohen. Seit zwanzig Tagen greift der türkische Staat die Zivilbevölkerung an, er beschießt unser Camp. Man will hier ein Massaker anrichten. Ich richte mich an alle Menschenrechtsorganisationen und Staaten. Hier sind Zivilisten, die vor dem Krieg geflohen sind; stoppt die Angriffe des türkischen Staates.“

„Wir haben unter Bäumen geschlafen“

Riyad Xelil aus Dera erklärt, dass der türkische Staat gezielt Wasserspeicher und Flüchtlingslager angreife, um die Menschen erneut in die Flucht zu zwingen. „Seit zwanzig Tagen gibt es hier im Camp aufgrund der Angriffe kein richtiges Essen oder sauberes Wasser mehr. Der türkische Staat beschießt Wasserspeicher, um die Menschen erneut in die Flucht zu treiben. Sie haben auch unser Camp angegriffen. Ich rufe alle Menschenrechtsorganisationen auf, nicht wegzuschauen. In der Nacht, als sie Efrîn angriffen und unser Camp angefangen haben zu beschießen, mussten wir alle das Camp verlassen und ohne Decken unter den Bäumen schlafen. Kinder und Alte sind krank geworden. Diejenigen, die uns das antun, sind Terroristen. Erdoğan ist der Chef dieser Banden und ein Terrorist.“

282.000 Flüchtlinge in Efrîn

Der Vertreter des Büros des Rates für gesellschaftliche Arbeiten im Kanton Efrîn Mihemed Haci Hesen berichtet, dass die Tore Efrîns seit 2011 Flüchtlingen aus Syrien offen stehen und man 2014 das Rûbar-Camp erbaut habe. Im Rûbar- und im Şehba-Camp leben etwa 4.000 Familien. Nach einer Zählung von vor einem Monat befänden sich 282.000 Geflüchtete im Kanton Efrîn.

„Das ist eine Schande für die ganze Menschheit“

Hesen betonte, dass die Region Efrîn die Flüchtlinge bisher versucht habe aus eigenen Mitteln zu unterstützen und dies auch weiterhin tun werde. „Aber seit zwanzig Tagen sind wir mit den Angriffen des türkischen Staates konfrontiert. Dies ist eine der wenigen Stätte Syriens, die nicht zerstört worden ist. Daher wurde diese Region zu einem Zufluchtsort für Flüchtlinge. Der türkische Staat möchte diesen Zufluchtsort nun vernichten. Der UNHCR, die internationalen Menschenrechtsorganisationen und alle Staaten schweigen dazu. Wir akzeptieren dies nicht. Efrîn, die Region, die so viele Frauen, Kinder, Alte, so viele Flüchtlinge mit offenen Armen empfangen hat, jetzt allein zu lassen, ist eine Schande für die ganze Welt.“