In der Autonomieregion Nord- und Ostsyrien leben Hunderttausende Menschen, die durch die wiederholten Invasionen der Türkei aus ihren Heimatorten vertrieben wurden. Der ehemals selbstverwaltete Kanton Efrîn wurde im Frühjahr 2018 vom türkischen Staat besetzt, die Regionen Serêkaniyê (Ras al-Ain) und Girê Spî (Tall Abyad) im Herbst 2019. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) weist in einer am Dienstag veröffentlichten Erklärung darauf hin, dass die Binnenflüchtlinge unter katastrophalen Bedingungen in überfüllten Lagern und Unterkünften leben und keine nachhaltige und angemessene Hilfe erhalten. Es bestehe ein dringender Bedarf an wettergerechten Unterkünften, ausreichenden sanitären Einrichtungen und einem angemessenen Zugang zu Nahrungsmitteln, sauberem Trinkwasser, Gesundheitsversorgung und Bildung.
„Angesichts der anhaltenden Vertreibung sind die schlimmen und übersehenen Bedingungen in den Lagern und Unterkünften im Nordosten Syriens eine deutliche Erinnerung an die dringende Notwendigkeit konzertierter humanitärer Bemühungen, um das Wohlergehen und die Würde aller Vertriebenen zu gewährleisten", erklärte Adam Coogle, stellvertretender HRW-Direktor für den Nahen Osten.
Die von Organisationen der Vereinten Nationen geleistete Hilfe für die Lager und Unterkünfte in den Autonomiegebieten sei uneinheitlich und insbesondere informelle Unterkünfte würden nicht ausreichend oder dauerhaft versorgt, so Human Rights Watch: „Obwohl internationale Nichtregierungsorganisationen in begrenztem Umfang Hilfe leisten, haben zahlreiche Lücken zu Zusammenbrüchen im Gesundheits- und Hygienebereich und zu Engpässen bei lebenswichtigen Materialien während des extrem heißen und kalten Wetters geführt, was Zweifel daran aufkommen lässt, ob das derzeitige Niveau der Hilfe die wirtschaftlichen und sozialen Rechte der Vertriebenen gewährleistet und den universellen Mindeststandards für humanitäre Hilfe entspricht.“
„Die Vertreibung geht weiter“
Human Rights Watch fordert die Vereinten Nationen, Hilfsorganisationen und die Autonomieverwaltung von Nordostsyrien (AANES) auf, „ihre Aufmerksamkeit dringend auf die prekäre humanitäre Situation in den informellen Lagern und Sammelunterkünften zu richten und dabei einen auf Rechten basierenden Ansatz zu verfolgen“. Die unterversorgten Lager seien „an ihrer Kapazitätsgrenze angelangt und gezwungen, neu vertriebene Syrer abzuweisen. Drei der informellen Lager wurden nach dem militärischen Einmarsch der Türkei in die Region im Jahr 2019 errichtet, der Hunderttausende von Menschen aus ihren Häusern vertrieben hat, und die Vertreibung geht aufgrund der anhaltenden Feindseligkeiten weiter, insbesondere aus Dörfern an der Grenze zwischen dem von der Autonomieverwaltung kontrollierten Gebiet und dem von der Türkei besetzten Gebiet. Die Nutzung von Schulen als Notunterkünfte hat die Bildung sowohl der Aufnahme- als auch der Vertriebenenbevölkerung beeinträchtigt.“
„Die syrische Regierung setzt die Hilfe seit Jahren als Waffe ein“
Die syrische Regierung setze die Hilfe der UN seit Jahren als Waffe ein und versuche zu diktieren, wohin die Hilfsgüter fließen, stellt Human Rights Watch fest. Damit werde verhindert, dass die Hilfe Gebiete außerhalb der Kontrolle des Regimes erreiche: „Obwohl von den Vereinten Nationen geleitete Hilfsmaßnahmen die Lebensader für Millionen von Zivilisten in Nordsyrien sind, zwang Russland den Sicherheitsrat im Januar 2020, drei von vier zuvor genehmigten Grenzübergängen zu schließen und damit die von den Vereinten Nationen geleitete grenzüberschreitende Hilfe für den Nordosten vollständig zu unterbinden, so dass die UN-Organisationen oft willkürlichen und ungerechtfertigten Bedingungen der Regierung ausgeliefert sind."
Titelfoto: HRW