HRW: Misshandlungen und Straflosigkeit in türkischer Besatzungszone

Die Türkei „trägt die Verantwortung für die schweren Übergriffe und möglichen Kriegsverbrechen, die von ihren eigenen Streitkräften und von ihr unterstützten lokalen bewaffneten Gruppen begangen wurden“, so HRW in einem Bericht zur Lage in Nordsyrien.

Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch (HRW) bestätigt, was seit Jahren bekannt ist: „Schwere Misshandlungen und potenzielle Kriegsverbrechen“ in den von der Türkei besetzten Gebieten in Nordsyrien. Kurdische Zivilpersonen und alle, denen Verbindungen zu kurdisch dominierten Kräften nachgesagt wurden, seien am häufigsten Ziel der Verstöße, schreibt HRW in einem am Donnerstag vorgelegten Bericht. Involviert seien sowohl Angehörige der türkischen Streitkräfte und Geheimdienste als auch Söldner des von Ankara aufgebauten und finanzierten Milizverbandes „Syrische Nationalarmee” (SNA) gewesen.

Opfer, Angehörige und Zeugen befragt

Die Türkei „trägt die Verantwortung für die schweren Übergriffe und möglichen Kriegsverbrechen, die von Mitgliedern ihrer eigenen Streitkräfte und von ihr unterstützten lokalen bewaffneten Gruppen begangen wurden“, heißt es in dem Bericht der Menschenrechtsgruppe weiter. Festgestellt wurden unter anderem Misshandlungen sowie Plünderungen und Beschlagnahmung von Eigentum. HRW stützt sich nach eigenen Angaben auf 58 Interviews zwischen November 2022 und September 2023. Befragt wurden Opfer, Angehörige und Zeug:innen, darunter auch ehemalige Bewohnende von Efrîn (Afrin), die vor dem Angriffskrieg im Jahr 2018 fliehen mussten. Sie könnten aus Angst vor Repressalien bis heute nicht an ihren Wohnort zurückkehren. Mehrere Betroffene erzählten HRW zudem, dass protürkische Milizen ihre Häuser und Olivenhaine beschlagnahmt hätten.

Willkürliche Verhaftungen, Folter, Verschwindenlassen

HRW schrieb weiter, dass die sogenannte Militärpolizei und die vielen SNA-Milizen „zahlreiche Menschen willkürlich verhaftet und inhaftiert, gewaltsam verschwinden lassen, gefoltert und anderweitig misshandelt und ungestraft unfairen Militärprozessen unterzogen“ hätten. So hätten ehemalige Insass:innen ausgesagt, sie seien in Gefängnissen von Ankara-treuen Söldnern etwa mit Metallrohren und Kabeln geschlagen worden. Weitere Formen von dokumentierter Folter seien das Ziehen von Zähnen und Nägeln gewesen, schrieb HRW.

Vergewaltigungen von kurdischen Frauen in Efrîn

Auch seien Vergewaltigungen in Haft dokumentiert worden. Kurdische Frauen in Efrîn hätten HRW von sexueller Gewalt in den Gefängnissen der Besatzer berichtet. Eine Frau habe der Menschenrechtsorganisation beschrieben, wie der Leiter eines von der „Militärpolizei“ und des türkischen Militärgeheimdienstes betriebenen Gefängnisses sie wiederholt vergewaltigt habe. Der Leiter habe zudem eine 19-Jährige vor ihren Augen vergewaltigt. Dem Bericht zufolge wurden sogar Kinder im Alter von sechs Monaten mit ihren Müttern inhaftiert.

„Türkische Beamte an mutmaßlichen Kriegsverbrechen beteiligt“

„Türkische Beamte sind nicht nur Zuschauer der Misshandlungen, sondern tragen als Besatzungsmacht die Verantwortung und waren in einigen Fällen direkt an mutmaßlichen Kriegsverbrechen beteiligt“, sagte Adam Coogle, stellvertretender Nahost-Direktor bei HRW. „Anhaltende Misshandlungen, einschließlich Folter und das Verschwindenlassen von Menschen“ gingen in Nordsyrien weiter, wenn die Türkei nicht die Verantwortung übernehme und dem Einhalt gebiete.

Die Mär von der „Sicherheitszone“

Die Türkei ist in der Vergangenheit immer wieder völkerrechtswidrig gegen die selbstverwalteten Gebiete im mehrheitlich von Kurdinnen und Kurden bewohnten Norden und Nordwesten von Syrien vorgegangen. Im Verlauf von drei Angriffskriegen und Invasionen wurden seit dem Jahr 2016 weite Teile im Grenzstreifen besetzt. Ankara verfolgt dabei das Ziel, eine „Sicherheitszone“ jenseits der Grenze zu schaffen, die entlang der gesamten gemeinsamen Grenze 30 Kilometer tief in syrisches Staatsgebiet reicht.

HRW: In Besatzungszone herrscht „Klima des Missbrauchs und der Straflosigkeit“

In dieser „Pufferzone“, die nichts anderes als ein Dschihadistengürtel ist, findet bereits seit Jahren eine demografische Veränderung zugunsten des türkischen Staates statt. Unter der Ägide von Ankara werden islamistische Milizen und ihre Angehörigen sowie Flüchtlinge aus anderen Teilen Syriens anstelle der vertriebenen Bevölkerung angesiedelt. HRW kritisierte, dass die von der Türkei besetzten Gebiete keine sichere Zone für Flüchtlinge sei, sondern ein „Klima des Missbrauchs und der Straflosigkeit“ herrsche.

Der Bericht von HRW ist unter dem Link https://www.hrw.org/news/2024/02/29/syria-abuses-impunity-turkish-occupied-territories einzusehen.