Efrîn: Von Stadt des Friedens zum Ort für Kriegsverbrechen

Aus dem als Stadt des Friedens und sicheren Hafen für zehntausende Schutzsuchende bekannten Efrîn wurde nach der Invasion der Region durch die Türkei und den mit ihr verbundenen Milizen ein Ort, an dem Furcht, Massaker und Plünderungen vorherrschen.

Die Operation „Olivenzweig“ verwandelte Efrîn vom Friedenssymbol für die verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu einem Symbol der Besatzung und Zerstörung. Der türkische Besatzerstaat und seine Milizen haben im ersten Monat der Angriffe 232 Zivilist*innen getötet, 35 davon Kinder. 668 Zivilist*innen, 90 davon Kinder, wurden bei den Angriffen verletzt.
Im zweiten Monat überstieg die Zahl der getöteten Zivilist*innen die 300, über 1.200 Zivilist*innen wurden verletzt. Die Zahl der unter der folgenden Besatzung getöteten Zivilist*innen ist unbekannt. Nach einer offiziellen Abschlussbilanz nach 58 Tagen des Angriffs wurden etwa 700 Zivilist*innen getötet, weitere 5.000 wurden verletzt. Da es während den letzten Tagen der Angriffe keine Möglichkeiten der Dokumentation gegeben hat und chemische Waffen eingesetzt wurden, ist die genaue Opferzahl unbekannt.

Als das Kind Yahya Ahmed Hemade mit seinen Freunden an den ersten Tagen der Angriffe in Efrîn auf der Straße spielte, wusste er nicht, dass er der erste Gefallene in der Stadt sein würde. Bei den fortgesetzten Angriffen wurden weitere 35 Kinder, unter ihnen das Baby Diyana Elsalih getötet.

Das erste Massaker in der Stadt fand am zweiten Tag der Angriffe im Dorf Cilbirê statt. Aufgrund des Angriffs wurden elf Zivilist*innen, die zuvor aus anderen Teilen Syriens in die Region geflohen waren, getötet. Mit den Angriffen gab es eine Vielzahl von Massakern in Mabeta, Cindirês, Şêrawa aber auch in anderen Regionen des Kantons.

Die Kämpferinnen und Kämpfer der YPG/YPJ zeigten einen Widerstand historischen Ausmaßes gegen eine der stärksten NATO-Armeen, die unter dem Einsatz aller möglichen Mittel die Region angriff. Die Kämpfer*innen vernichteten drei Hubschrauber und Dutzende Panzerfahrzeuge, etwa 4.000 türkische Soldaten und Milizionäre wurden getötet.

Bevölkerung von Efrîn mit Massaker bedroht

Schon in den ersten Tagen zeigte sich, dass das türkische Militär ohne jede Rücksichtnahme auf menschliche Werte oder das Kriegsrecht angriff. Nachdem die türkische Armee und seine Milizen das Dorf Qestel Cindo besetzten, wurden Aufnahmen veröffentlicht, die deutlich belegen, wie die ezidische Bevölkerung mit einem Massaker bedroht wird. Später wurden viele weitere Aufnahmen veröffentlicht, die zeigen, wie Dschihadisten des IS oder Al-Nusra auf Seiten der Türkei kämpfen.

Gefangene wurden von türkischen Soldaten und Milizen auf grausame Weise ermordet und sogar Leichname wurden verstümmelt. Auf vielen Bildern sind auch türkische Soldaten und Milizionäre zu sehen, die den Besitz und die Tiere der Zivilbevölkerung als Kriegsbeute stehlen.

Als Kriegsverbrechen zu bewertende Rechtsverletzungen

Mit der Besatzung Efrîns durch die türkisch-dschihadistischen Truppen begannen Verbrechen wie Plünderungen, Massaker, Entführungen und Vergewaltigungen. In der Stadt bestand damit in keiner Weise mehr Sicherheit für die Bewohner. Mit der Vertreibung der ansässigen Bevölkerung wurden die Pläne des türkischen Staates für den aktiven Wandel der Demografie fortgesetzt. Etliche Handlungen, die als Kriegsverbrechen definiert sind, wurden von Presseorganen oder den betreffenden Einrichtungen dokumentiert.

Mihemed Cemîl, Anwalt und Ko-Vorsitzender der nordsyrischen Menschenrechtsorganisation, betont, dass die Entführungen, Morde, Plünderungen und Vergewaltigungen in Efrîn nicht nur den Menschenrechten widersprechen, sondern gleichzeitig Kriegsverbrechen darstellen. Cemîl sagt, die volle Verantwortung für die Kriegsverbrechen in der Stadt liege beim türkischen Staat, daher müsse dieser entsprechend internationaler Rechtsmaßstäbe und Verfahrensnormen verurteilt werden.

Menschen leben in Häusern wie im Gefängnis

„Seit Tagen sehen wir keine Sonne. Mit unseren kleinen Töchtern können wir keinen Schritt nach draußen tun. Wir fürchten uns sehr.“ Dies sind die Worte einer ezidischen Mutter, die in Efrîn lebt. Die Frau, die sich aufgrund der barbarischen Angriffe durch die Besatzungstruppen davor fürchtet, ihr Haus zu verlassen, erfährt in Telefongesprächen mit ihren Verwandten, was draußen los ist.

H.N. gelang es trotz der Angriffe, Efrîn zu verlassen, um nach Şehba zu gelangen. Er sagt: „In Efrîn gibt es eine rassistische Haltung gegenüber den Kurden. Die Kurden in der Stadt haben nicht das Recht, irgendetwas zu fordern. Kurdische Jugendliche werden aufgrund billiger Vorwände verhaftet.“ H.N. nennt uns seinen Namen nicht, da er Angst um die Sicherheit seiner in Efrîn verbliebenen Angehörigen hat. Er berichtet, dass sich niemand alleine auf die Straße traut und die Bevölkerung permanenten Angriffen ausgesetzt ist.

Zahl der Entführten hat 1.500 überschritten

Im Zuge der Besatzung wurden in Efrîn wurden Dutzende Geheimdienstinstitutionen aufgebaut. Der Kanton ist mittlerweile unter den Milizen in mehrere Regionen aufgeteilt, in denen systematische Plünderungen, Raub und Vergewaltigungen durch die Besatzer stattfinden. Die Plünderungszüge werden von den Milizen unter der Kontrolle der türkischen Armee durchgeführt. Dabei wird alles gestohlen, was sich in Geld umsetzen lässt.

Zwischen dem 20. März und dem 1. August wurden 300 Traktoren und 218 Fahrzeuge gestohlen. Darüber hinaus wurden Tausende Generatoren und Motorräder entwendet und auch die Läden und Wohnungen geplündert. Das Diebesgut wird auf den Märkten in Azaz und Idlib verkauft.

In den letzten vier Monaten gibt es 1.500 dokumentierter Fälle entführter Zivilistinnen und Zivilisten. Immer wieder wird Lösegeld für die Freiheit dieser Personen erpresst. Nach Angaben der Syrischen Beobachtungsstelle für Menschenrechte (SOHR) werden in Efrîn alle 48 Stunden 20 Menschen entführt. 450 Zivilist*innen sind verschwunden, von 15 wurden bisher die Leichname gefunden.

Völker und Religionen akut bedroht

Die verschiedenen religiösen und ethnischen Identitäten in Efrîn sind akut bedroht. Im Dorf Qîbarê wurde der 70-jährige Ezide Umer Memo Şemo ermordet, weil er sich weigerte, zum Islam zu konvertieren. Ezid*innen müssen in Efrîn unter Zwang zu Moschee gehen, ihre Kinder sind gezwungen, in islamistischen Schulen entsprechenden Religionsunterricht zu erhalten.

Die ezidischen Siedlungsgebiete in Efrîn, Basofan, Feqîra, Elî Qêna, Qestel Cindo, Qîbarê, Bircebdalo, Qitmê, Eyin Dara, Terendê, Sînka, Keferzît, Îska, Şadêrê, Kîmrê, Aşka, Baiyê, Qicûma, Qîlê und Cindirês befinden sich direkt im Visier des türkischen Staates. Die Soldaten dringen immer wieder in die Dörfer ein und führen Razzien durch. Dabei kommt es zu Plünderungen und Folter. Die Ezidische Union von Efrîn gibt die Zahl der aus Efrîn entführten Ezidinnen und Eziden mit 50 an.

Gulê Cafer, Mitglied der Frauenkoordination der ezidischen Union, sagt: „Bei den Angriffen wurde auch insbesondere die ezidische Bevölkerung gezielt ins Visier genommen. Die Besatzer bombardierten historische Stätten der Region und verdeutlichten damit, dass sie die kurdische Geschichte und Identität auslöschen wollen. Die Besatzung von Efrîn ist eine Fortsetzung der osmanischen Politik, die darauf abzielte, die mesopotamische Zivilisation zu vernichten.“ Cafer betont, dass die Menschen niemals in ihrem Widerstand nachgeben werden.

Der türkische Staat schreckt auch nicht davor zurück, die heiligen Orte der Region zu zerstören. Ezidische Friedhöfe wurden von den Besatzungstruppen bereits zerstört. Historische Symbole der Stadt sind niedergerissen worden.

Gemeinsam mit ihren Milizen greift die türkische Armee auf die Taktiken des sogenannten Islamischen Staates (IS) zurück, um die Ezidinnen und Eziden unter ihrer Besatzung zur Konversion zum Islam zu zwingen.

ANHA | BASIL REŞÎD - SELAH ÎBO