Efrîn-Tagebuch: Von Feiglingen ist keine Größe zu erwarten

Sie lesen in den Nachrichten von türkischen Luftangriffen auf Efrîn, aber wissen Sie, was geschieht, wenn eine Bombe abgeworfen wurde? Ich habe es erlebt, ich weiß es.

In Efrîn regnen keine Regentropfen auf uns nieder, sondern Bomben. Und in den TV-Kanälen sagt der Staatspräsident der Türkei, Recep Tayyip Erdoğan: „Wir haben unseren kurdischen Brüdern unsere Herzen geöffnet, wir haben keine Bomben auf sie fallen lassen.“ Das ist keine Ironie, es ist Realität, und der Mann tut auch noch so, als ob er seinen eigenen Worten glaubt. Alle Besatzer sind Lügner. Sind Diebe, sind gewissenlos. Und wenn in der Zeit, in der Sie leben, die Lüge mehr Gewicht hat als die Wahrheit, dann sollte Ihnen bewusst sein, dass Sie gerade den jüngsten Tag erleben. Wir befinden uns mittendrin.

Ich sitze mit verschränkten Beinen an der Schwelle der Zeit und denke darüber nach, als nach einem unheimlichen Dröhnen eine Explosion zu hören ist. Die Luftwaffe der türkischen Besatzer hat unsere Gräber bombardiert. Unsere Knochen spritzen aus der Erde hervor. Unsere Lebenden bedecken sie mit Erde, unsere Toten holen sie wieder aus der Erde hervor. Weder auf der Erdoberfläche noch unter der Erde ist uns Ruhe gegönnt. Ein alter Mann sucht mit schmerzverzerrtem Gesicht an diesem Ort, der früher ein Friedhof war und jetzt ein Trümmerfeld ist, nach den toten Körpern seiner Liebsten, die er hier begraben hat. Gäbe es doch eine andere Welt, in die ich mein Land mitnehmen könnte, und die Menschen, deren Herz millionenfach gebrochen wurde, sage ich mir. Mir fällt kein Begriff ein, mit dem ich den Feind beschreiben könnte. Schwach und grausam reicht nicht aus. Das passende Wort für die Niedertracht des Feindes ist noch nicht erfunden.

Wir sind zu naiv für diese Zeit

Wir Kurd*innen sind die Schwarzen dieser Welt. Kurdistan ist ein blutspuckender Vulkan dieser Erde. Wir hätten nicht in dieser Zeit auf die Welt kommen sollen, wir passen nicht in diese Zeit, wir sind zu naiv für diese Zeit. Der Feind, der uns zugedacht ist, ist zu amorph…

Sie lesen in den Nachrichten von den türkischen Luftangriffen auf Efrîn, aber wissen Sie, was geschieht, wenn eine Bombe abgeworfen wurde? Ich habe es erlebt, ich weiß es. Zwischen dem Rauch und Staub der Trümmer färbt sich das orangefarbene Kleid einer Puppe mit Augen aus blauen Glassteinen langsam rot. Die Besitzerin der Puppe hat gerade noch gelacht. Vor kurzem war ihr Körper noch intakt. War noch nicht dem Sinn und der Wahrheit entzogen und in Fetzen gerissen. Gerade eben noch hatte keine Mutter ihr Kind verloren, war mein Inneres noch nicht zur Hölle geworden, hatte die Frau ihr Kleid noch nicht vor Schmerz zerrissen. Das alles geschah, nachdem die Bombe abgeworfen worden war. Nachdem ein tonnenschweres Geschoss ein 23 Kilogramm schweres Kind ausgelöscht hat. Nachdem die Menschlichkeit Selbstmord begangen hat.

Man kann darauf warten, dass ein Stein aus tiefem Schlaf erwacht. Vielleicht träumen Steine sogar, wer weiß? Wir warten. Wir warten seit Stunden darauf, dass die zivilen Menschen aus den Trümmern der von den türkischen Bomben getroffenen Gebäude geborgen werden. Die Kampfflugzeuge der türkischen Besatzer töten nicht nur wahllos Kinder, Frauen, Alte, sie greifen auch die Notfallteams an, die die Verletzten bergen wollen. Efrîn erlebt einen von einem Ungeheuer verursachten Weltuntergang. Für dieses Ungeheuer ist das Grauen Normalität. Was hier stattfindet, ist kein Krieg. Hunderte Menschen sind bisher in Efrîn getötet worden, aber kein einziger wurde von einer Kugel aus der Nähe getroffen. Alle wurden Opfer von aus großer Entfernung abgefeuerten Artilleriegeschossen oder aus Flugzeugen abgeworfener Bomben. Hier ist kein Krieg, hier ist nur die Niedertracht der türkischen Armee. Hier ist die Feigheit einer riesengroßen Armee. Hier ist eine sündige Welt, die den Tod verheimlicht.

Und wir sind als Menschen dieses Landes geboren. Die Besatzer sind nicht unsere Geschwister. Wir können keine Barbaren als Geschwister haben, wir sind in dem Glauben aufgewachsen, dass Ethik ein hoher Wert ist. Wir haben an die Wahrheit geglaubt, deshalb können Lügner nicht unsere Geschwister sein. Selbst unter Feinden gibt es Umgangsformen. Auch die hat unser Feind nicht.

YENİ ÖZGÜR POLİTİKA