Efrîn-Tagebuch: Kinder einer schmerzhaften Zeit

Wir stehen im 21. Jahrhundert vor einer Höhle in Efrîn. Drinnen liegt eine Frau in den Wehen. Um sie herum haben sich andere Frauen versammelt, die sich wie bei einer heiligen Zeremonie aufführen und ihr ganzes Können zeigen.

„Wir sind Zeugen dessen, was unserem Volk angetan wird. Wenn der Feind uns nicht tötet, müssen wir ihn töten, nach all dem, was wir gesehen haben. Leben diese Monster weiter, gibt es noch mehr Tod auf dieser Welt“, sagt eine Kämpferin. Sie hält den Kopf gesenkt und konzentriert sich auf ihre schlammverschmutzten Schuhe. Es ist jedoch klar, dass sie nicht ihr Schuhe sieht, sondern einen Ort sucht, an den sie sich flüchten kann.

Wir stehen im 21. Jahrhundert vor einer Höhle in Efrîn. Drinnen liegt eine Frau in den Wehen. Um sie herum haben sich andere Frauen versammelt, die sich wie bei einer heiligen Zeremonie aufführen und ihr ganzes Können zeigen. Sie kommen und gehen geschwind, ohne sich um das Artilleriefeuer zu kümmern.

Etwas weiter vorne steht eine Kämpferin, die sich bemüht, die Kinder ihre Angst vergessen zu lassen. Sie bringt ihnen ein Lied bei und es klingt wunderschön, als sie es gemeinsam singen.

Die Kämpferin vor mir mit den schmutzigen Schuhen und den Zöpfen auf ihrer Schulter möchte ich zum Reden bringen, denn ich sehe, wie sie leidet. Wenn ich ihren Schmerz teile, tut es weniger weh, das weiß ich. Ich stelle ihr eine Frage nach der anderen. Und alle Fragen handeln von der Geburt.

Die Kämpferin erzählt mir die Geschichte einer Geburt.

„Ich war dabei, als meine Mutter ein Kind gebar. Für mich war es ein Tag, an dem das Leben und der Tod sich die Hand reichten. Als ich meine Mutter in ihrem Blut und Schmerz liegen sah, dachte ich, sie wäre gestorben. Das Weinen meines kleinen Bruders war hingegen ein Zeichen des Lebens. In diesem Moment waren Leben und Tod gleichzeitig da. Ich war noch zu klein, um es mir erklären zu können. Ich beobachtete die Geburt von Anfang bis Ende und bekam einen Schock. Ich konnte nicht mehr sprechen und war wie von Sinnen.

Sie brachten mich zu meiner Mutter und legten mich in ihre Arme, weil sie dachten, dass ich vielleicht wieder zu mir komme, wenn ich ihren Geruch wahrnehme, aber nein… Ich war wütend auf meinen Bruder, weil er meine Mutter hatte bluten lassen. Ich konnte es nicht glauben, dass sie noch lebte. Schließlich wurde ich zu meiner Großmutter ins Dorf gebracht. Wahrscheinlich gingen sie davon aus, dass ich das Wunder der Geburt in der Stadt niemals würde begreifen können.“ Die Kämpferin lacht lauthals.

Ich sage: „Wir sind jetzt aber nicht in der Stadt, sondern vor einer Höhle, und trotzdem begreifen wir es nicht. Gib es zu, wir beide haben große Angst vor Geburten, deshalb sind wir ja auch draußen geblieben.“ Mit den Augen stimmt sie mir zu. „Und was geschah dann? Sie haben dich zu deiner Großmutter gebracht, hast du danach wieder angefangen zu sprechen?“, löchere ich sie weiter. Sie sieht ein, dass es vor meinen Fragen keine Rettung gibt, und erzählt weiter:

„Meine Großmutter wich mir nicht von der Seite und versuchte die ganze Zeit, mir die Sache zu erklären. Mein Stadt-Kopf begriff es nicht. Meine Großmutter stellte einen Teller Honig vor mich auf den Frühstückstisch, zog mit dem Finger eine Trennlinie durch den Honig und sagte mir, ich solle ihn im Auge behalten. Ich gehorchte und wandte meinen Blick nicht ab. Nach kurzer Zeit war der Honig wieder zusammengeflossen und sah aus wie vorher. Meine Großmutter sagte: ‚Frauen sind wie dieser Honig. Sie können auseinandergerissen werden und finden trotzdem wieder zusammen‘. Aber auch dieser Versuch war umsonst, ich redete nicht. So verging etwa ein Monat. Eines Tages kam meine Tante aufgeregt herein und sagte: ‚Mutter, das Pferd fohlt‘. Alle außer mir liefen zum Stall. Ich hatte nicht nur das Sprechen verlernt, ich konnte auch nicht laufen. Nach einer Weile kam meine Großmutter zurück und trug mich eilig in den Stall. ‚Wende deinen Blick nicht ab, sieh dir alles an‘, sagte sie. Ich nickte und beobachtete die Geburt des Pferdes. Es sah mehr oder weniger so ähnlich aus wie beim Menschen. Meine Großmutter wusste, dass ich so meinen Schock überwinden würde. Sie blieb an meiner Seite und versuchte, mich zum Reden zu bringen. Ihr Ärmel hatte sie hochgekrempelt und ihre Hände waren ein bisschen blutig. Sie sagte: ‚Schau, die Stute hat das Fohlen zur Welt gebracht und ist nicht daran gestorben. Nicht immer stirbt jemand, wenn Blut fließt. Deine Mutter wird nicht sterben und auch dein Bruder wird leben.‘ Ich starrte das neu geborene Fohlen an. Es war gerade erst zur Welt gekommen und versuchte schon zu laufen. ‚Großmutter, kann mein Bruder auch schon laufen?‘ Das war der erste Satz, der nach einem Monat aus meinem Mund kam. Meine Großmutter bekam feuchte Augen und nahm mich fest in den Arm. ‚Na klar, er zieht jetzt durch die Gegend‘, sagte sie halb lachend und halb weinend. Sie lachte, weil ich zu sprechen begonnen hatte. Sie weinte, weil ich aufgrund einer Lähmung seit meiner Kindheit nicht laufen konnte und mir das Laufen daher so wichtig war. So ist das halt, wir sind die Kinder einer schmerzvollen Zeit.“

Jetzt hören wir die Stimme eines weiteren Kindes, das in einer schmerzvollen Zeit geboren ist.

Ort: Efrîn

Zeit: 21. Jahrhundert

Ereignis: Eine Frau, die sich vor dem Artilleriefeuer in eine Höhle flüchtet, bringt ein Kind zur Welt.

Herzlich willkommen, Kind.

YENİ ÖZGÜR POLİTİKA