Zu einer Zeit, in der sich in allen vier Teilen Kurdistans etliche Intellektuelle, Akademiker*innen, Lehrer*innen, Autor*innen und Künstler*innen entschlossen, nach Europa zu gehen, schlug der aus Ostkurdistan stammende Wissenschaftler Dr. Sîpan Serhed den Weg in das vom Krieg zerstörte Kobanê in Nordsyrien ein.
Dr. Sîpan Serhed studierte im Iran Biotechnologie an der Universität Teheran. Nach seinem erfolgreichen Abschluss wirkte er an zahlreichen wissenschaftlichen Artikeln und Studien mit. Von den Bergen Rojhilats wandte er sich den Tälern Rojavas zu.
Als ein Verwandter wegen seiner Zugehörigkeit zur kurdischen Befreiungsbewegung vom iranischen Regime hingerichtet wurde, legte Sîpan Serhed seinen Fokus auf die Sache Kurdistans. Mit der Revolution von Rojava erreichte seine Suche ihren Höhepunkt. Seit nunmehr drei Jahren lehrt Dr. Serhed an der Universität Kobanê die neue Generation. Gemeinsam mit zwei seiner Kollegen aus Ostkurdistan richtete er hier den Studiengang Biologie ein und arbeitet gerade an einem Labor. Gleichzeitig schafft er die Basis für den Studiengang Medizin. Nebenher erfüllt er sich noch seinen Traum, wie er sagt, und erteilt Kurdisch-Unterricht an der Universität. Er fügt an: „Auch wenn wir hunderte oder sogar tausende Mängel haben sollten, muss uns trotz dessen klar sein, dass das hier unseres ist, uns gehört.“ Zur Abwanderung von Intellektuellen und Akademiker*innen ins Ausland sagt Dr. Serhed: „Statt nach Europa zu gehen oder in anderen Regionen die individuelle Rettung zu suchen, solltet ihr hierherkommen. Was ihr sucht ist hier, sucht nicht in der Ferne...“
Wir haben mit Dr. Sîpan Serhed ein langes Gespräch über das Hochschulwesen in Rojava geführt. Aus Sicherheitsgründen veröffentlichen wir keine Bilder von ihm, da seine Familie in Rojhilat verblieben ist.
Seit wann sind Sie in Rojava und was waren die Gründe für diese Entscheidung?
Zunächst einmal möchte ich den Gefallenen aus allen Teilen Kurdistans mit Respekt gedenken. Wenn wir heute hier sind, dann nur, weil sie Opfer geleistet haben. Ich komme aus Rojhilat (Ostkurdistan). Die Schulausbildung und mein Studium habe ich an iranischen Bildungseinrichtungen absolviert. Während meiner Studienzeit wurden vier unserer Revolutionäre vom iranischen Regime hingerichtet. Einer von ihnen war mein Verwandter. Das wiederum hat bei mir Fragen aufgeworfen. Und mit der Revolution in Rojava und insbesondere dem Kampf um Kobanê haben sich diese Fragen vertieft.
Mit dem Krieg in Kobanê ist unsere Aufmerksamkeit für Rojava gestiegen. Ich selbst habe damals besonders das Bildungssystem zu verfolgen versucht und dann erfahren, dass einige Universitäten eröffnet wurden. 2015 wurde beispielsweise die Universität in Efrîn eröffnet. Im nächsten Jahr folgte die Universität Rojava und 2017 die Kobanê-Universität.
Ein oder zwei Tage nach der offiziellen Eröffnung sind wir mit der hiesigen Verwaltung in Kontakt getreten. Mein Freundeskreis und ich haben angeboten, bei Bedarf nach Rojava zu kommen und mitzuhelfen. Als uns dann mitgeteilt wurde, dass dieser Bedarf besteht, haben wir unsere Vorbereitungen getroffen. Ich selbst bin 2017 nach Rojava gekommen.
Was für ein Bild hat Sie hier erwartet? Können Sie über Ihre damaligen Emotionen erzählen?
Das erste, woran wir gedacht hatten war, ob wir in Kobanê eine Unterkunft haben werden. Denn alle sprachen über den Zustand der Stadt nach dem Krieg und über die Zerstörung. Das stimmte zwar, aber die Lage war nicht so desolat wie erwartet. Grundlegende Dinge wie Strom, Brot und Wasser waren vorhanden. Ich bin als erster hergekommen, zwei weitere Freunde folgten.
Vorbereitungen für eine medizinische Fakultät
Haben Sie sofort nach Ihrer Ankunft mit der Arbeit begonnen?
Wir drei sind Spezialisten im Fachgebiet der Biotechnologie. Da es an der technischen Ausrüstung mangelt, konnten wir diesen Studiengang nicht einrichten. Stattdessen haben wir das nächstliegende Fach Biologie eingeführt. Unsere Studierenden bevorzugen seit zwei Jahren diesen Studiengang. Nun sind wir dabei, die Basis für eine medizinische Fakultät, ein Labor und das dazugehörige Fach aufzubauen. Denn dafür gibt es einen grundlegenden Bedarf. Unser Projekt ist vorbereitet und angenommen worden. Und wir glauben daran, dass wir es schaffen.
Normalerweise wird in Kriegen zerstört, aber wir bauen auf
Für Außenstehende entsteht bei dem Wort Rojava das Bild eines militärischen Gebiets. Aber in Wirklichkeit ist hier trotz der Kriegssituation ein Bildungssystem errichtet worden, welches innerhalb kurzer Zeit wichtige Erfolge erzielt hat. Wie bewerten Sie das hiesige Bildungssystem?
Es erscheint mir vor allem wie ein Traum. Du erteilst Kurdisch-Unterricht, hast Schüler*innen und Bildungsinstitutionen. Es ist wirklich wie im Traum. Auch wenn wir hunderte oder sogar tausende von Defiziten haben, sollten wir uns folgendem bewusst sein: Das hier ist unseres, es gehört uns. Es ist das Produkt von großen Mühen. Daher betrachte ich es als Traum. Insbesondere dann, wenn man bedenkt, dass wir an einem Ort unterrichten, wo früher nicht einmal unsere Identität anerkannt wurde. Es wird in der Muttersprache unterrichtet. Das ist wunderbar. Und ich erinnere daran, dass es zu Zeiten des Regimes in puncto Hochschulwesen nicht einmal eine Universität in Rojava gab. Jetzt aber gibt es hier Hochschulen. Nirgendwo auf der Welt werden in Kriegszeiten Universitäten oder Schulen errichtet, ganz im Gegenteil, vorhandene werden sogar zerstört. Hier bei uns geschieht jedoch das Gegenteil davon. Wir haben Schulen, Akademien und Hochschulen aufgebaut.
Selbstverständlich gibt es aber auch Schwierigkeiten. Das können wir nicht verleugnen. Beispielsweise herrscht hier ein hoher Mangel an Lehrkräften, da mit dem Krieg viele Menschen geflohen sind. Das stellt ein großes Problem dar. An dieser Stelle möchte ich Kritik an diesen Lehrkräften äußern. Sie werden dort, wo sie jetzt sind, enttäuscht werden. Wir appellieren an sie, an ihre Schulen, Hochschulen und zu ihren Schüler*innen zurückzukehren. Insbesondere rufen wir diejenigen zur Rückkehr auf, die aus Rojava weggegangen sind. Denn diese Arbeit liegt auch in ihrer Verantwortung.
Es gibt keinen Erfolg ohne Hindernisse
Ich möchte das Thema wissenschaftliche Sprache aufnehmen. In welcher Sprache findet das Studium hauptsächlich statt?
Da Kobanê überwiegend von Kurden bewohnt ist, findet das Studium in Kurdisch statt. Zusätzlich wird auch auf Arabisch unterrichtet. Im Studiengang Biotechnologie sind Fachbegriffe und Fachliteratur jedoch hauptsächlich in Englisch. Die Diskussionen und Erklärung werden auf Kurdisch abgehalten. Wir sind eine neue Universität und erschaffen in dieser Gegend etwas Neues. Wie ich bereits zu Beginn gesagt habe, werden wir aber weiterhin mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Es gibt keinen Erfolg ohne Hindernisse.
Wie nehmen die Studierenden die Universität auf? Sehen sie an Ihrer Universität eine Zukunft für sich?
Im ersten Jahr hatten wir einen geringen Zulauf, der sich im zweiten verdoppelt hat. Und in diesem Jahr haben wir enorm hohe Anmeldezahlen. Das zeigt, dass unter den Studenten das Vertrauen in die Hochschule gestiegen ist. Derzeit haben wir mehr als 180 Lernende. Und ich nehme an, dass die Zahl in diesem Jahr weiter steigen wird. In Bezug auf Vertrauen und Zukunftsaussichten kann ich nur sagen, dass dies nicht eine Sache von einem Tag oder einem Jahr ist. Es braucht eine viel längere Zeit dafür. Und genau hier kommen noch viele Aufgaben auf uns zu. Wie weit können wir die Menschen überzeugen? Zudem sollten wir uns nicht an den Hochschulabschlüssen des syrischen Regimes, sondern an den Abschlüssen anderer Universitäten und Akademien der Welt orientieren. Dies ist eine politische Situation. Es liegt höchstwahrscheinlich daran, dass der Status von Rojava nicht anerkannt ist. Aber dieser psychologische Zustand wird mit der Zeit überwunden werden. Auch das ist ein Gebiet eines Kampfes und enorm wichtig.
Wir brauchen strategische Pläne für die nächsten fünf, zehn und zwanzig Jahre
Sie sprechen davon, dass ein Kampf nicht nur Militär benötigt...
Nein, auf keinen Fall sind nur Soldaten nötig. Ein Kampf ist mehrdimensional und Bildung ist einer der schwierigsten Aspekte. Denn Bildung zielt darauf ab, ein Umdenken zu erreichen und es aufzubauen. Daher ist es notwendig, in diesem Bereich strategisch vorzugehen. Wir brauchen somit strategische Pläne für die nächsten fünf, zehn und zwanzig Jahre.
Wenn ich mich nicht irre, haben Sie in den letzten Jahren mit einer Vielzahl von Universitäten in Europa, Amerika und anderen Regionen Kontakte geknüpft, die wiederum hierher Delegationen entsandt haben. Hat dies zu geistigen Anregungen geführt?
Das ist korrekt. Es sind sehr viele wissenschaftliche Lehrkräfte aus Europa und den USA hierhergekommen und haben Kontakte geknüpft. Sie waren sehr erstaunt von der Universität von Kobanê. Wie ich schon sagte, bedeutet Krieg normalerweise nur eine Militarisierung. Aber wir haben sowohl militärisch als auch auf der Ebene der Institutionalisierung gesiegt. Das hat sie sehr verwundert.
Unsere Beziehungen dauern an. Im Oktober werden erneut Lehrkräfte aus dem Ausland nach Rojava kommen. Und wir haben gemeinsame Projekte. Mit einigen Universitäten haben wir über die Möglichkeiten eines gemeinsamen Unterrichts über das Internet gesprochen, der online stattfindet. Dieses Jahr planen wir die Umsetzung dieses Projekts, insbesondere im Bereich der Naturwissenschaften. Es ist ein großes Projekt und unsere diesbezüglichen Gespräche dauern an.
Nebenan findet eine Revolution statt...
Ich würde gerne mit Ihnen über ein anderes Thema reden. An sich haben Sie es vorhin schon angeschnitten. Aus allen vier Teilen Kurdistans machen sich gebildete Menschen in Massen auf den Weg nach Europa. Zweifelsfrei gibt es dafür unterschiedliche Gründe. Sind Sie der Meinung, dass die Bevorzugung Europas, gerade jetzt, da nebenan eine große Revolution stattfindet und diese Menschen ihren Teil dazu beitragen könnten, ungerecht ist?
Früher hatten wir kaum Möglichkeiten. Damals haben wir den Wegzug von Menschen nach Europa oder in die USA als normal betrachtet, weil sie sich „gerettet“ haben. Nun aber ist in Rojava die Zeit der Revolution. Wir haben hier einen großen Bedarf und wenn dennoch Europa bevorzugt wird, dann betrachte ich dies persönlich nicht als Unrecht, sondern kritisiere es. Denn nebenan findet eine Revolution statt und es gibt in Bereichen wie Bildung, Akademie, Gesundheit, Kultur, Kunst und zahlreichen weiteren viel zu tun. Du aber triffst eine andere Entscheidung. Das ist ein sehr ernster Kritikpunkt. Nehmen wir an, dass die hiesige Philosophie oder das Leben dich nicht zufriedenstellt und du darum gehst. Auch das ist nicht akzeptabel. Auch dann musst du hierherkommen und kämpfen. Wenn es Fehler gibt, solltest du diese zu beheben versuchen. Du musst sagen können, dass du gekämpft hast. Du hast unweigerlich dein seit Jahrzehnten unterdrücktes und nun rebellierendes Volk mit all deiner Erfahrung zu unterstützen. Der Kampf darf nicht nur als ein bewaffneter verstanden werden. Es gibt diejenigen, die das machen und weiter tun werden. Ich selbst würde beispielsweise als militärische Kraft versagen, aber im Bildungsbereich kann ich viel tun. Und darum führe ich meinen Kampf hier auf diesem Gebiet.
Auf militärischer Ebene ist die Einheit bereits realisiert...
Schaut euch mal die Grabmäler der Gefallenen an. Dort liegen die Seelen aus allen vier Teilen Kurdistans nebeneinander. An der Front ist es dasselbe Bild. Aber ich kann nicht bestätigen, dass diese Einheit in anderen Bereichen ausreichend erreicht ist. Ganz im Gegenteil. Daher solltet ihr statt dem Weggang nach Europa oder in andere Regionen, um eure individuelle Freiheit zu suchen, hierherkommen. Das, was ihr sucht, ist hier. Sucht es nicht in der Ferne. Es gibt hier unterschiedlichste Möglichkeiten und diese werden auch aufgewiesen.
Kurzum, Patriotismus bedeutet nicht nur an einer Demonstration teilzunehmen und in den sozialen Medien Flagge zu zeigen. Er muss in der Praxis umgesetzt werden. Rovaja ist immer noch dringend auf die Hilfe von Bakûr, Başûr und Rojhilat (Nord- Süd- und Ostkurdistan, Anm. d. Red.) angewiesen. Diese Unterstützung wird dringend und allen voran in den Bereichen Bildung und Kultur, aber auch in vielen anderen Bereichen benötigt.
Wie würde Dr. Sîpan Serhed auf die Frage antworten, was sein zukünftiges Projekt oder sein Traum ist?
Mein Traum ist es, an dieser Universität einen Studiengang in Biotechnologie zu errichten. Das Fach Biologie haben wir bereits errichtet. Unser folgender Wunsch war die Eröffnung eines Labors, wozu der Grundstein bereits gelegt wurde. Ich hoffe, dass die Einrichtung des Studienfachs Medizin die Krönung dessen ist. Unser Traum ist dann in Erfüllung gegangen, wenn wir irgendwann auf globalem Standard wissenschaftlich mitarbeiten können und damit auch was erreichen.
Andererseits brauchen wir eine Strategie. Diese muss langfristig sein. Wenn wir diese Strategie festlegen und uns daran halten, dann nähern wir uns unseren Träumen. Aber erst dann, wenn wir damit beginnen, aus den anderen Teilen Kurdistans und der Welt Studierende aufzunehmen, können wir sagen, dass wir Erfolg haben.