Der von den Besatzern geschaffene „Afrin-Rat“

Nachdem die Kräfte des türkischen Staates das Stadtzentrum von Efrîn (Afrin) besetzt hatten, riefen mit ihnen verbundene Milizen den sogenannten „Stadtrat“ aus.

Nachdem das türkische Militär und seine Milizen ab dem 20. Januar begonnen hatten Efrîn anzugreifen, drangen, nachdem Hunderttausende vor den Angriffen geflohen waren, die türkischen Truppen und ihre Milizen am 18. März ins Stadtzentrum von Efrîn ein. Sie begannen sofort mit Plünderungen und Verwüstungen und rissen die Statue des mythischen kurdischen Helden Kawa herunter. Der türkische Staat installierte in Folge den „Afrin-Rat“ als Teil der Besatzungsherrschaft.

30-köpfige Kontra-Struktur

Als Sprecher des aus dreißig Personen bestehenden „Rates“ tritt im Moment eine Person namens Hasan Şindi auf. Alle anderen Mitglieder der Struktur wurden öffentlich nicht benannt. Hasan Şindi ist selbst Mitglied des türkischen Geheimdienstes MIT. ANF hat eine umfangreiche Recherche unternommen, um die Struktur und die Ziele der Gruppe, die sich als „Stadtrat von Afrin“ bezeichnet besser verständlich zu machen.

Während die Milizen und das türkische Militär Efrîn plünderten, fand am 20. März der „Befreiungskongress von Afrin“ in Antep statt. Dort wurde die Gründung des „Stadtrates von Afrin“ verkündet. Während Efrîn vor der Invasion seit 2011 mehr als eine Million Flüchtlinge beherbergt hatte und ein Zentrum von Frieden, Stabilität und des Zusammenlebens der unterschiedlichen Identitäten war, versuchte die Türkei ohne Erfolg die Region immer wieder durch Angriffe zu destabilisieren. In diesem Rahmen wurde die als „Stadtrat von Afrin“ bezeichnete Struktur aufgebaut. In Antep trat dieser „Rat“ einerseits mit Feindschaft gegenüber Kurd*innen, der YPG und der PYD gegenüber auf, andererseits versuchte er seine eigentlichen Ziele hinter dem Mantel falscher Kurdenfreundlichkeit und Demokratie zu verbergen. Nachdem die Bevölkerung von Efrîn 58 Tage Widerstand geleistet hatte und schlimme Massaker durch das türkische Regime erlebte, wird nun ein „kurdischer“ Kolonialverwalter von Erdoğan ernannt. Es ist klar, dass er weder bei Kurd*innen, noch bei den Menschen aus Efrîn insgesamt Legitimität besitzt.

Diese Struktur spielt eine entscheidende Rolle im Plan Erdoğans die Demographie der Region zu verändern. Erdoğan hatte immer wieder manipulativ verbreitet „Wir übergeben Afrin den Menschen aus Afrin“. Die ist nichts anderes als der leicht durchschaubare Versuch der Invasion Legitimität zu verleihen und diskursiv eine türkische Siedlungspolitik in der Region vorzubereiten. Das ist auch der Grund für die Anwesenheit von Hasan Şindi als Kurde in dieser Kontra-Struktur.

Der „Rat“ wurde zur Sicherheit, zur Geheimdienstarbeit und zu Legitimierung der Besatzer gegründet.

Es heißt, dass an dem Treffen in der Dschihadistenhochburg dem türkischen Staat nahestehende Kreise aus den türkisch besetzten Städten wie Azaz und al-Bab und der Türkei, sowie 75 Kurden aus Efrîn, die in Europa, vor allem in Deutschland leben, teilgenommen hätten. An dem Treffen nahmen auch Geheimdienstvertreter und Sicherheitspolitik- und Außenpolitikexperten des türkischen Staates teil. Die Zusammensetzung zeigt deutlich, dass dieses Treffen keinen „kurdischen“ Charakter hat. Im Gegenteil, es wird deutlich, dass es sich dabei um eine auf Kurdenfeindschaft gegründete geheimdienstbasierte Struktur handelt. Dies macht klar, dass der Diskurs „Afrin, den Menschen aus Afrin“ zurückgeben zu wollen, weder über historische noch über völkerrechtliche Legitimität verfügt.

Der türkische Staat setzt verschiedene Hoffnungen in die Gründung dieser Struktur. So geht es darum, dass die Personen, die vorgeblich im Namen „der Kurden“ nach Efrîn geschickt werden, auch geheimdienstliche Funktionen gegenüber der nach Efrîn rückkehrwilligen Bevölkerung erfüllen. Es heißt, dass bereits damit begonnen wurde, dem türkischen Staat Listen mit den Mitarbeiter*innen der Demokratisch Autonomen Verwaltung zukommen zu lassen.

Es wird deutlich, dass der türkische Staat Efrîn, wie die zuvor besetzten Regionen Cerablus, al-Bab und Azaz zu regieren sucht. In anderen Worten, es geht darum, die Region von den Milizen unter Leitung des türkischen Geheimdienstes beherrschen zu lassen. Abgesehen von der Tatsache, dass man in Efrîn mit einer Schicht von kurdischen Kollaborateuren, um die Demographie der Region zu verändern, vorschiebt, gibt es keinen Unterschied. Auch in den anderen Regionen vertrieb der türkische Staat die Mehrheit der Einwohner*innen und siedelte seine Milizen, ihre Familien und Menschen, die ihm die Treue schworen bzw. dazu gezwungen wurden ihm die Treue zu schwören, an.

Kriegsverbrechen sollen auf die FSA abgewälzt werden

Es handelt sich um keinen Zufall, dass der Sprecher dieser Kontra-Struktur Hasan Şindi am Tag des Kongresses der türkischen Staatsagentur Anadolu, der russischen Agentur Sputnik und der kurdischen Agentur Rudaw, der Verbindungen mit dem MIT nachgesagt werden, Interviews gab. Denn so sehr man auch die Augen verschließt, der türkische Staat hat die Kriegsverbrechen, die er während der Invasion begangen hat, in Zusammenarbeit mit Russland begangen. Auch die Pläne des türkischen Staates, die Demographie der Region zu verändern, sowie die Massaker an der Zivilbevölkerung und die Plünderungen, wurden von der Weltöffentlichkeit wahrgenommen.

Nachdem schon vor dem Einmarsch ins Stadtzentrum von Efrîn immer wieder Massaker an der Zivilbevölkerung bekannt geworden sind, haben einige AKP-Vertreter damit begonnen, die Verantwortung für Verbrechen den von ihnen selbst geschaffenen FSA-Milizen zuzuschieben.

Die südkurdische PDK Nachrichtenagentur Rudaw, die selbst mit Liveübertragung den Einmarsch des türkischen Staats und seinen Milizen in Efrîn begleitet hatte, fragte Hasan Şindi nach der Zerstörung der Kawa Statue durch türkeitreue Milizen. Şindi antwortete so, als wäre der türkische Staat dafür nicht verantwortlich „Wir nehmen das, was die FSA tut, nicht hin“, und erklärte, es gäbe keinen Plan die Demographie zu verändern. Die YPG hätte Minen gelegt und YPG und FSA begingen Kriegsverbrechen. Diese Behauptungen wiederholte er für die türkische Website von Sputnik. Auch wenn wir die vom MIT abhängige Agentur Anadolu außen vorlassen, weder Rudaw, noch Sputnik haben gefragt: „Gut, aber hat der türkische Staat diese FSA nicht nach Efrîn gebracht? Der türkische Staat tötet mit Panzern und Flugzeugen Zivilisten, warum zeigen Sie darauf keine Reaktion?“

Der Plan hinter dieser Distanzierung ist fadenscheinig. Einerseits erklärt Erdoğan gegenüber Rudaw über die Kurd*innen „Wir weisen Euch keinerlei Wert zu“, auf der anderen Seite lässt er Hasan Şindi, ebenfalls über Rudaw erklären, dass die Massaker und Plünderungen nicht vom türkischen Staat stammen sondern von der FSA durchgeführt werden. Es ist allerdings vollkommen klar, dass die „FSA“-Einheiten von türkischen Offizieren befehligt werden, das haben auch Aussagen von „FSA“-Vertretern bestätigt.

Die dunkle Vergangenheit von Hasan Şindi

Aber wer ist Hasan Şindi und was veranlasst ihn, für die türkische Kolonialverwaltung zu arbeiten? Wenn wir uns seine Vergangenheit anschauen, dann überrascht dies weniger. Hasan Şindi stammt aus dem Dorf Qirmileki bei Efrîn. Er arbeitet seit 2011 bis heute für den türkischen Geheimdienst MIT. Er kommt aus Mustafa Cumas Azadî-Partei, welche die PYD, weil sie den dritten Weg eingeschlagen hat, der Kollaboration mit dem Regime beschuldigt. Die Azadî-Partei agierte ab 2011 im Kontext des Kurdischen Nationalrats (ENKS). Das Salahaddin-Ayyubi-Bataillon, das als bewaffnete Kraft zur Azadî-Partei gehört, hat ab 2011 bewaffnete Angriffe in Efrîn, Aleppo, Şehba und Şêx Maqsûd durchgeführt. Sie haben ebenfalls an den Massakern von Til Eran und Til Hasil mitgewirkt, bei denen Milizen von Haus zu Haus gingen und „Apoisten“ suchten und ermordeten. Bei diesen Massakern wurden zwischen 50 und 70 Zivilist*innen ermordet. 2011 haben sie den ersten Gefallenen der Revolution von Efrîn zu verantworten. Nachdem sich die Jugendbewegung von Rojava dagegen gewandt hatte, Gruppen der syrischen Nationalkoalition (ETILAF) nach Efrîn zu lassen, hatten sie Çekdar Amed, den Jugendverantwortlichen von Rojava, gefangen genommen und zu Tode gefoltert. Hasan Şindi ist eng mit dem Kommandanten des Selahaddin-Ayyubi-Bataillons befreundet.

2014 wurde aus der KDP (Abulhakim Başar – El Parti), der Azadî-Partei (Mustafa Cuma und Mustafa Oso) und der Yekitî die PDK-S gegründet. So sehr sich die Azadî-Partei in dieser Partei auch eingebracht hat, sie versteht sich immer noch als eigene Gruppe und existiert als solche weiter. Die Milizen der Azadî-Partei agieren immer wieder unter unterschiedlichen Namen, so nahmen sechs Bataillone unter dem Namen Samarkand-Brigade als Teil von Erdoğans Neuen Syrischen Nationalen Heer an der Besetzung von Efrîn teil.

Hasan Şindi hat nicht nur enge Beziehungen zu diesen Milizen, er konnte ihnen direkte Befehle für blutige Angriffe erteilen. Şindi steckt hinter zwei Explosionen in Efrîn. Am 23. August 2013 detonierte eine Bombe in der Nähe der Nachrichtenagentur ANHA und am 5. September vor der Einrichtung für Zivilgesellschaftliche Organisationen (SCS) in Efrîn. Dabei wurden vier Personen getötet. Eine Person, die hinter den Anschlägen steckte sagte gegenüber den Asayiş-Sicherheitskräften aus, dass sie den Befehl für die Angriffe von Hasan Şindi in der Türkei erhalten hätten.

Warum sagt Şindi, der ENKS wäre nicht Teil des Rats

Hasan Şindi hatte in seinem Interview vom 20. März gegenüber Sputnik erklärt, dass es „in dieser Struktur keine ENKSler“ gibt. Er selbst hat eine Vergangenheit im ENKS und es gibt keine Hinweise darauf, dass er seine Verbindungen zum ENKS abgebrochen hat. Ein Grund, warum diese Struktur als unabhängig vom ENKS dargestellt wird, ist, dass sich Barzanî und der ENKS vor den Reaktionen der Öffentlichkeit fürchten und in inneren Widersprüchen stecken. Der Widerstand von Efrîn und der Angriff der Türkei haben einen tiefen Eindruck in der südkurdischen Gesellschaft hinterlassen. Das hat sowohl Barzanî, als auch die ihm nahestehenden ENKSler dazu gezwungen, ab und zu Erklärungen gegen die Invasion abzugeben.

Der Bevölkerung kennt aber die Azadî Gruppe und die ENKS-Vertreter Ibrahim Biro, Fuat Aliko, Abdulhekim Başar und Siyamend Hajo, wie auch die mit dem MIT eng zusammenarbeitende Yekitî-Partei gut. Sie wissen, dass der ENKS unter ihrer Führung dazu verurteilt wurde, sich der aus kurdenfeindlichen, chauvinistischen Kräften zusammengesetzten Nationalen Koalition (ETILAF) anzuschließen. Vor dem Hintergrund dieser Realität trennten sich ebenfalls die meisten Gruppen vom ENKS und haben sich der Revolution von Rojava angeschlossen. Deswegen ist es auch sehr wahrscheinlich, dass, auch wenn der ENKS seine Verbindungen zum „Afrin-Rat“ nicht offen zugibt, sie für die Ziele ihres gemeinsamen Herrn zusammenarbeiten. Einige Indizien scheinen dies zu belegen.

So wurde das Treffen in Antep von dem „Verein der unabhängigen Kurden aus Syrien“ (KKS) ausgerichtet. Vorsitzender dieses Vereins ist Abdülaziz Temo. Der Verein war 2016 in Riha (Urfa) auf einem vom MIT organisierten Kongress zum Kampf gegen die PYD und die YPG gegründet worden. Dieser Verein hat wiederum Verbindungen zu Fuat Aliko vom ENKS. Weitere Mitglieder wie Mihemed Elî Îsa waren 2015 als Vertreter des ENKS im von der Muslimbruderschaft und der Türkei kontrollierten Syrischen Nationalen Koalition (ETILAF) vorgesehen. 2017 befindet sich Mihemed Elî Îsa in der Führung des KKS.

Die Vertreter des ENKS, Abdulhekim Başar, Siyamend Hajo, Fuat Aliko und Ibrahim Biro und andere aus diesen Kreisen versuchen während der heftigsten Angriffe des türkischen Staates die Bevölkerung gegen die YPG aufzuhetzen und ein Klima der Resignation und Aufgabe zu verbreiten.

Diese Personen sind insbesondere auch in Deutschland aktiv. Deutschland stellt durch seine besondere antikurdische Haltung ein zentrales Aktionsfeld des MIT und des ENKS dar. So hat die Bundesregierung über das Europäische Zentrum für Kurdische Studien (EZKS), dessen Schatzmeister Siyamend Hajo ist, dem ENKS direkt rund 364.753,- Euro, insgesamt Projekten von Siyamend Hajo in Rojava rund 958.838,- Euro zwischen 2013 und 2017 zukommen lassen. Diese Personen werden ohne Zweifel den „Afrin-Rat“ als Referenz für ihre Diplomatie im Namen von Efrîn verwenden.

Der ENKS-Vertreter Fuat Aliko hat bereits in einer Bewertung gegenüber Rûdaw erklärt, die in Antep gegründete Struktur bemühe sich um eine Rückkehr der Menschen nach Efrîn und lobte sie mit folgenden Worten: „Sie sind alle aus dem Volk von Efrîn, es sind bewusste Menschen, Patrioten, die ihre Region befreien wollen.“ Natürlich ist diese Äußerung von Aliko ziemlich merkwürdig, insbesondere vor dem Hintergrund, dass er hier von einem Treffen spricht, bei dem es um ein von der Türkei okkupiertes Gebiet geht und an eben diesem Treffen der türkische Geheimdienst beteiligt ist.

Dies zeigt vor dem Hintergrund der Situation der Bevölkerung Efrîns, der Massaker und Plünderungen einmal mehr, dass es sich bei diesem „Rat“ um nichts anderes als einen Teil der türkischen Kolonialverwaltung handelt.