Es gibt einige unter ihnen, die bis zum Schluss an der Seite der IS-Banden ausharren. Manche unter Zwang als sogenannte menschliche Schutzschilde, andere wiederum freiwillig. Unter den Zivilist*innen, die gerettet wurden oder flüchteten, gibt es auch solche, die solange beim „Islamischen Staat“ blieben, bis dieser das Dorf nicht mehr halten konnte. Sie sind ebenso überrascht wie diejenigen, denen sie begegnen.
Wer sind diese Zivilist*innen?
Kämpferinnen und Kämpfer der Demokratischen Kräfte Syriens (QSD/SDF), der YPG und YPJ betrachten sie als Zivilpersonen. Bei den meisten, die in den vergangenen Tagen eintrafen, handelt es sich um Frauen und Kinder. Bisher haben sie über den IS keine schlechte Bemerkung fallen lassen. Doch sowohl sie als auch ihre Kinder haben Hunger – und sie sind erschöpft.
Eine Kämpferin hebt ein mit Staub bedecktes Kind hoch und lächelt es an. Es streckt seine Zunge aus und sieht sie an. Ein Kämpfer hockt zwischen mehreren Frauen, die einen Niqap tragen, und versucht ein Kind zu füttern. Es sind nur die Gesichter der Kinder, die unter all diesen Menschen zu erkennen sind. Die Frauen sind vollständig mit ihren schwarzen Tüchern umhüllt.
Weiter draußen fällt ein QSD-Kämpfer auf, der ein Kind in seinen Armen hält. Eine Frau, offenbar die Mutter des Kindes, folgt dem Kämpfer, während andere ihr misstrauische Blicke zuwerfen. Auch ihr Gesicht ist nicht zu erkennen. Und auch sie trägt ein Kind. ‚War diese Frau auch eine von denen, die andere Frauen folterten? Weshalb war sie dort? Warum ist sie geflüchtet?‘ mögen sich einige vielleicht fragen.
Die „Flüchtlinge“ und „Bürger“ des IS
Wir sind in einem Wüstengebiet nahe des Dorfes al-Bagouz. Die geretteten Zivilist*innen werden von den QSD und Kräften der internationalen Anti-IS-Koalition überprüft. Sobald sie aus den Fahrzeugen steigen, fällt sofort ihre andersartige Kleidung auf. Solche, die nicht aus Syrien stammen, tragen Markenkleidung und Markenschuhe. Es wird vermutet, dass es sich bei ihnen um die Ehefrauen von hochrangigen IS-Funktionären handelt. Die sogenannte IS-Verwaltung teilt Menschen in die Klassen „Flüchtling“ und „Bürger“ auf. „Bürger“ sind Einheimische, deren Aufgabe es ist, im Dienst der „Flüchtlinge“ zu stehen.
Als Raqqa von der IS-Herrschaft befreit wurde, sagten uns die Frauen der Stadt: „Aus Angst vor den ‚Flüchtlingen‘ hatten wir noch nicht mal Zeit, uns am Kopf zu kratzen. Dutzende ezidische Frauen wurden dazu benutzt, ihnen zu dienen.“
Unter den geflüchteten Zivilist*innen befindet sich auch die Französin ‚Oum Shehid‘. Sie weigert sich, ihren richtigen Namen zu nennen: „Ich werde meinen Namen nicht verraten. Wahrscheinlich weiß man sogar, wer ich bin.“ Ihre Worte lassen vermuten, dass sie in ihrem Heimatland strafrechtlich verfolgt wird. Nun ist sie in der Wüste von Deir ez-Zor gelandet. Sie ist nur einer der zahllosen Widersprüche in diesem Krieg, der seit fast acht Jahren andauert.
Schmaler Grat
Eine Irakerin und ihre beiden Töchter sind erst wenige Augenblicke hier. Während sie erklärt, warum sie bis jetzt beim IS blieb, erwähnt sie, dass ihre drei Söhne und ihr Ehemann vor einer Woche in al-Bagouz starben. Doch ein Zeichen von Trauer sucht man in ihrem Gesicht vergeblich. Die Tochter einer anderen Familie wurde vom IS getötet und wird gerade begraben. Einige, die kamen, um den Marsch zu beobachten, vergießen bei dem Anblick die eine oder andere Träne. Die Angehörigen der Getöteten sind bei der Beisetzung ihrer Tochter nicht wirklich gerührt. Die schrecklichen Auswirkungen des Krieges sind in all ihren Facetten zu spüren. War es nur ein Schockzustand, der ausgelöst wurde?
Es existiert ein schmaler Grat zwischen Kriegsverbrechern und Opfern. Unter den Zivilist*innen, die vom IS geflüchtet sind, kann dieser Grat jedoch versanden.