Bericht: Über 10.000 Entführungen seit Beginn der Efrîn-Invasion
Über sechs Jahre nach Beginn der Invasion von Efrîn wird der Alltag der kurdischen Region im Norden Syriens weiterhin von Kriegsverbrechen geprägt.
Über sechs Jahre nach Beginn der Invasion von Efrîn wird der Alltag der kurdischen Region im Norden Syriens weiterhin von Kriegsverbrechen geprägt.
Auch mehr als sechs Jahre nach Beginn der völkerrechtswidrigen Invasion der kurdischen Region Efrîn (Afrin) in Nordsyrien durch die Türkei am 20. Januar 2018 prägen Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen den Alltag der Zivilbevölkerung. Nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Rêxistina Mafên Mirovan li Efrînê wurden in den ersten vier Monaten des laufenden Jahres mindestens neunzehn Menschen durch türkische Besatzungstruppen und deren dschihadistische Verbündete ermordet, etwa durch Artilleriebeschuss, Drohnenangriffe, Schüsse oder unter Folter. Unter den Opfern waren auch zwei Frauen. Die Zahlen gehen aus einem Bericht hervor, den die Organisation am Samstag vorlegte. Weitere 197 Menschen sollen im selben Zeitraum entführt worden sein, 25 von ihnen waren ebenfalls Frauen. Fünf Zivilistinnen seien Opfer von Vergewaltigung und anderen sexualisierten Gewalthandlungen geworden.
Über 460 Morde seit 2018
Damit steigen die von Rêxistina Mafên Mirovan li Efrînê seit Beginn der Besatzung in der Region erfassten Morde auf 463 und die der Vergewaltigungen auf 142 an. Die Zahl der Entführungsfälle belaufe sich mittlerweile sogar auf 10.332. Laut der Juristin Roşîn Hido, die Ko-Vorsitzende der Union der Anwältinnen und Anwälte im Kanton Efrîn-Şehba ist, wurden mehr als zwei Drittel aller Entführungen im ersten Jahr der Invasion Efrîns verzeichnet. Das Motiv dabei sei in der Regel eine Lösegeldforderung gewesen. Frauen und Mädchen würden hauptsächlich verschleppt, um vergewaltigt beziehungsweise zwangsverheiratet oder als Sklavin missbraucht zu werden. „Mit dieser Form der Kriegsführung zielen die Besatzer darauf ab, den Willen der freien Frau zu brechen und auf diese Weise die Gesellschaft als Ganzes zu unterwerfen“, so Hido. Natürlich geht es dabei auch um Rache für den IS, an dessen Untergang maßgeblich kurdische Frauen beteiligt waren, meint die Juristin.
Roşîn Hido (c) ANHA
„Die Türkei hat in Efrîn und allen anderen von ihr und ihren islamistischen Hilfstruppen besetzten Gebieten von Nordsyrien ein Terrorregime installiert“, so Hido. Nach wie vor arbeite Ankara daran, die Region zu türkisieren und arabisieren bzw. zu islamisieren. Dieser tägliche Terror führe dazu, dass die wenigen in Efrîn verbliebenen Kurdinnen und Kurden ihre Heimat verlassen. Früheren Berichten von Rêxistina Mafên Mirovan li Efrînê und der Anwaltsunion zufolge soll der Anteil der kurdischen Bevölkerung von über neunzig Prozent vor der Besetzung auf etwa 15 bis 20 Prozent gesunken sein. Hido warf der internationalen Gemeinschaft vor, den Zustand der Besatzung in Efrîn weitgehend zu ignorieren.
Internationale Staatengemeinschaft ignoriert Lage in Efrîn
„Trotz einschlägigen Berichten über die mit der Invasion einsetzenden Kriegsverbrechen, darunter Plünderungen, Vertreibungen, Vergewaltigungen, Entführungen und der demographische Wandel, die wir regelmäßig westlichen Staaten und ihren Organisationen vorlegen, werden die Verhältnisse in der türkisch-dschihadistischen Besatzungszone in der Regel nicht beachtet oder relativiert.“ Nur wenige Organisationen würden sich mit der Lage in Efrîn befassen und Berichte erstellen. „Daher rufen wir die internationale Gemeinschaft und ihre Organisationen eindringlich dazu auf, den in den besetzten Regionen Nordsyriens, insbesondere in Efrîn verübten Verbrechen nachzugehen und ihrer Verantwortung gerecht zu werden, das Ende der Invasion und dadurch Frieden zu gewährleisten und alle Verantwortlichen von Verbrechen gegen die Menschlichkeit strafrechtlich zu verfolgen“, forderte Hido.
Ignorierter Völkerrechtsbruch: Die Besatzung Efrîns
Unter dem zynischen Namen „Operation Olivenzweig“ startete die Türkei am 20. Januar 2018 einen Angriffskrieg gegen Efrîn, um die kurdische Region im Nordwesten von Syrien aus kolonialistischem Selbstverständnis heraus zu besetzen. Die Bevölkerung leistete 58 Tage Widerstand, bis die Volks- und Frauenverteidigungseinheiten (YPG und YPJ) einen Beschluss zur Evakuierung fassten, um weitere Massaker zu verhindern. Nach jüngeren Schätzungen der Autonomieverwaltung kamen mindestens 1500 Menschen in der Zeit zwischen Kriegsbeginn und der endgültigen Okkupation Efrîns am 18. März 2018 ums Leben.
Bis zur Invasion war Efrîn die stabilste Region Syriens und galt inmitten eines brutal geführten Bürgerkriegs als sicherer Hafen für unzählige Binnenvertriebene aus anderen Teilen des Landes. Der Angriff auf die ehemals nach dem Kantonsprinzip von Rojava selbstverwaltete Region kam zu einem Zeitpunkt, als eine mögliche politische Lösung nach der weitgehenden Zerschlagung der Dschihadistenmiliz „Islamischer Staat“ (IS) wieder vermehrt diskutiert wurde. Bei ihrem Angriffskrieg bediente sich die Türkei der Unterstützung dschihadistischer Milizen, die durch Ankara ausgebildet, ausgerüstet und finanziert worden waren, und setzte unter anderem auch deutsche Waffen – wie etwa Leopard-2-Panzer ein.
Offiziell, um sich selbst zu verteidigen, schaffte der türkische Staat relativ schnell Fakten in Efrîn, deren Bevölkerung zu mindestens 95 Prozent kurdisch war: Über 400.000 Menschen wurden vertrieben, ihre Häuser und Felder beschlagnahmt. Angesiedelt wurden überwiegend turkmenische und arabische Familien aus allerlei Ländern, bei denen es sich hauptsächlich um Angehörige der Besatzungstruppen handelt. Die kurdische Sprache wurde faktisch ausradiert, die Namen der meisten Straßen, Plätze, öffentlichen und historischen Orte im ehemaligen Kanton sind mit den Namen von türkischen und islamischen Persönlichkeiten ausgetauscht und insbesondere nach solchen benannt worden, die Verbrechen gegen das kurdische Volk begangen haben. Alleinige Amts- und Unterrichtssprachen sind Türkisch und Arabisch. In allen Schulen ist das islamische Rechtssystem (Scharia) Pflichtfach.
Kultur zerstört, EU mitschuldig
Kulturgüter wie archäologische Stätten wurden geplündert beziehungsweise zerstört, auf einigen historischen Siedlungshügeln hat die Türkei sogar militärische Stützpunkte errichtet. Christliche, ezidische und alevitische Gotteshäuser wurden unter Schirmherrschaft türkischer Behörden in Moscheen verwandelt, nahezu alle Friedhöfe der religiösen Minderheiten gelten mittlerweile als vernichtet. Und auch die Natur Efrîns, die berühmt war für ihren historisch bis in die Zeit vor Christi Geburt zurückreichenden Olivenanbau und die Seife aus Olivenöl, blieb von der Unterdrückung der Besatzungstruppen nicht verschont. Mehreren großen Abholzperioden fielen mehr als zwei Drittel des damaligen Waldbestandes zum Opfer. Die Oliven und das Öl gelangen über die Türkei auf den Weltmarkt und die Einnahmen finanzieren sowohl ein unterdrückerisches Regime als auch Gruppen, die schwerste Kriegsverbrechen begehen. Damit machen sich EU-Staaten zu Helfern von Terrorfinanzierung und Krieg.
Geflüchtete leben in Şehba
Sechs Jahre nach Beginn der Besatzung Efrîns ist die große Masse der angestammten Bevölkerung geflohen. Weniger als 20 Prozent der ursprünglichen kurdischen Einwohner:innen sind geblieben, einige Quellen sprechen sogar von weniger als zehn Prozent. Dabei handelt es sich zumeist um ältere Menschen. Die meisten Vertriebenen leben bis heute in Zeltstädten in der wüstenähnlichen Şehba-Region, die inzwischen Teil des neuen Kantons Efrîn-Şehba ist.
Foto: Entgültiger Fall von Efrîn am 18. März 2018, Söldner besetzen den Hauptsitz der Kantonsverwaltung im Stadtzentrum (c) Reuters