Der invasive Angriffskrieg der Türkei und ihrer dschihadistischen Verbündeten gegen die selbstverwalteten Regionen Nord- und Ostsyriens hat verheerende Auswirkungen auf die multiethnische und multireligiöse Zivilbevölkerung. Serêkaniyê (Ras al-Ain) ist eine der Städte, die nach elf Tagen erbittertem Widerstand an die türkischen Besatzungstruppen gefallen sind. Aus der Grenzstadt und ihrem Umland wurden bisher annähernd 250.000 Menschen vertrieben. Unter ihnen befinden sich auch rund 100 christliche Familien, die mittellos in das Flüchtlingsleben gezwungen wurden und nun in Schulgebäuden oder bei der Bevölkerung der umliegenden Ortschaften untergekommen sind. Zurückgeblieben in Serêkaniyê sind einige kranke christliche Bewohner*innen, deren Schicksal ungewiss bleibt.
Wir haben mit Gabriel Shamoun, dem Ortsvorsitzenden der Assyrischen Einheitspartei (Gabo d'Ḥuyodo Suryoyo) in Hesekê, über die Lage der christlichen Bevölkerung und den drohenden Exodus gesprochen. Shamoun befürchtet ein zweites 1915.
„Auf Grundlage unseres Projekts der demokratischen Nation, die aus der Vereinigung der kulturellen und nationalen Identitäten entstanden ist und die Grundrechte der gesamten Bevölkerungsstruktur verteidigt, lebten die Aramäer, Assyrer und Aramäer in Frieden und Sicherheit. Dies galt auch für die Regionen in und um Serêkaniyê und Girê Spî (Tall Abyad). Auch die verschiedenen christlichen Völker hatten sich am Modell der demokratischen Selbstverwaltung orientiert und ein gemeinschaftliches und gleichberechtigtes Leben aufgebaut. Zuletzt wurde in Serêkaniyê eine Privatschule eröffnet, in der Schülerinnen und Schüler eine Bildung genossen, die ihren christlichen Werten und Traditionen entsprach. Jetzt haben sie all ihre Errungenschaften verloren“, erklärt der Politiker.
‚Der Genozid wiederholt sich‘
Shamoun verweist auf die Massenflucht seit Beginn der völkerrechtswidrigen Invasion des NATO-Staats Türkei in Nord- und Ostsyrien. Hunderttausende wurden gezwungen, aus ihren Häusern in die Mittellosigkeit zu fliehen. Sie lebten in ständiger Angst vor wahllosen Bombardements, Verschleppungen und Tötungen. Viele Menschen haben Zuflucht in Hesekê, Til Temir und Qamişlo gefunden.
„Der Genozid von 1915 wiederholt sich. Schon damals wurde die assyrische, aramäische und armenische Bevölkerung ihrer Rechte beraubt. Heute widerfährt diesen Menschen das gleiche Schicksal. Ihre Existenz wird einfach ignoriert“, sagt Shamoun.
Der Völkermord an den syrischen Christen bezeichnet die Ereignisse von 1915 bis 1917 während des Ersten Weltkrieges unter der Herrschaft der Jungtürken im damaligen Osmanischen Reich, die gleichzeitig mit dem Genozid an den Armeniern (Aghet) und den Verfolgungen der Pontosgriechen geschahen. Die Suryoye bezeichnen dieses dunkle Kapitel ihrer Vergangenheit als Sayfo oder Seyfo, welches übersetzt Schwert bedeutet. Mindestens 1,5 Millionen Menschen kamen bei den Massakern und Todesmärschen ums Leben.
‚Solange sich die Aggressoren nicht zurückziehen, kehrt niemand zurück‘
Gabriel Shamoun bestätigt, dass alle Gegenden Nord- und Ostsyriens von der türkisch-islamistischen Besatzung betroffen sind und es nicht nur in dem für eine sogenannte „Sicherheitszone“ vorgesehenen Grenzstreifen zu invasiven Angriffen kommt. „Die Besatzung hat für die gesamte Region verheerende Auswirkungen. Einige unserer Freundinnen und Freunde sind gefallen. Während die Demokratischen Kräfte Syriens (QSD) entsprechend dem Abkommen über einen Waffenstillstand handeln, unternehmen die Aggressoren keine ernsthaften Schritte in diese Richtung. Besonders die Angriffe auf Ortschaften in und um Til Temir, die unter der Kontrolle christlicher Kräfte stehen, erschweren die Sicherheitslage vor Ort. Und solange sich der türkische Staat und seine Milizen nicht zurückziehen, werden die Menschen nicht in ihre Häuser zurückkehren können. Denn alle Komponenten der angestammten Bevölkerung werden als ‚Kafir‘, also als Ungläubige oder Gottesgegner angesehen und dementsprechend behandelt. Unter diesen Voraussetzungen ist eine Rückkehr ausgeschlossen.“
Krieg hält überall an
Shamoun befürchtet eine weitaus größere Angriffswelle auf Nord- und Ostsyrien, die unmittelbar bevorstehe. Weder die USA noch das Regime in Damaskus unternehmen ernsthafte Schritte für einen Waffenstillstand, kritisiert der Politiker. Der Krieg halte überall in den selbstverwalteten Gebieten an. „Vor allem die anhaltenden Gefechte bei Zirgan (Abu Resen) haben ein großes Gefahren- und Schadenspotenzial. Sie deuten darauf hin, dass sie nur den Auftakt einer größeren Angriffswelle bilden und neue Luftangriffe auf die Region folgen werden. Zusammengefasst: Die Zivilbevölkerung wird weiter leiden.“
Stärkere Einheit gegen neoosmanische Träume
Gegen die neoosmanischen Träume des türkischen Staates helfe nur eine stärkere Einheit der assyrischen, aramäischen und armenischen Bevölkerung, glaubt Gabriel Shamoun. „Das ist die wichtigste Aufgabe, vor der wir stehen. Wir müssen unsere langjährige Einheit verteidigen, um unsere Rechte durchzusetzen und den Angriffen standhalten. Sie schaden dem Volk in allen Bereichen des Lebens. Wir müssen unsere Sprache, Kultur und unsere Geschichte beschützen. Und wir müssen die QSD, die alle Komponenten der Bevölkerung Nord- und Ostsyriens gegen die Invasion verteidigen, unterstützen.“