Acht Jahre Revolution in Rojava
Vor acht Jahren begann in Kobanê die Revolution von Rojava. Limah Abdullah schildert, wie sie die damaligen Geschehnisse in Dêrik erlebt hat. „Inzwischen ist es keine rein kurdische Revolution mehr“, so ihr Fazit.
Vor acht Jahren begann in Kobanê die Revolution von Rojava. Limah Abdullah schildert, wie sie die damaligen Geschehnisse in Dêrik erlebt hat. „Inzwischen ist es keine rein kurdische Revolution mehr“, so ihr Fazit.
In der Nacht vom 18. auf den 19. Juli 2012 brachte die kurdische Bevölkerung mit Hilfe von geheim aufgebauten bewaffneten Komitees die Zufahrtsstraßen nach Kobanê in Nordsyrien unter ihre Kontrolle. Zeitgleich wurde damit begonnen, alle staatlichen Institutionen in der Stadt einzunehmen. Eine Menschenmenge versammelte sich vor einem Militärstützpunkt der Assad-Armee, eine Delegation verhandelte mit den Militärs. Sie sollten ihre Waffen abgeben und man werde für ihre Sicherheit garantieren, das war das Angebot der kurdischen Seite. Angesichts der Ausweglosigkeit gegenüber den Volksmassen willigten die Soldaten ein. So begann die Revolution von Rojava. Von Kobanê aus weitete sich die Revolution in den darauffolgenden Tagen auf weitere Städte Westkurdistans aus. Diese Befreiung war jahrelang durch die PYD und von im Geheimen aufgebauten militärischen Komitees vorbereitet worden. Der 19. Juli gilt seither als Tag der Revolution von Rojava. Seit nunmehr acht Jahren wird in Rojava eine „Demokratische Autonomie“ nach den Ideen Abdullah Öcalans aufgebaut und unter großen Opfern verteidigt.
Eine Delegation der feministischen Kampagne „Gemeinsam Kämpfen“ hat in Rojava ein Interview mit Limah Abdullah, einer der Protagonistinnen der Befreiung der Kleinstadt Dêrik, geführt. Weitere Interviews und Hintergrundberichte der Delegation sollen im Herbst in Buchform erscheinen.
Du warst schon in den 1980er Jahren in der kurdischen Bewegung, wie sah die Arbeit damals aus?
Ich habe mich seit 1987 an der kurdischen Bewegung beteiligt. Schon davor haben wir Familien in ihren Häusern besucht und organisiert. Unsere politische Arbeit musste im Verborgenen stattfinden, wegen der Repression des Staates. Als Frauen haben wir autonome Treffen organisiert. Wir haben mit Frauen gesprochen, sie haben uns in ihre Häuser eingeladen. Wir konnten immer mehr Frauen dafür gewinnen, sich an dieser Arbeit zu beteiligen. Über diese Organisierungsarbeit haben wir die Ideen der Bewegung verbreitet. Zu Beginn, als die Bewegung frisch nach Rojava kam, haben die Hevals [kurd. Freund*innen] nicht offen gesagt, dass sie die Ideen Öcalans vertreten, sondern sie kamen einfach zu uns nach Hause.
In der Bevölkerung gab es ein Erwachen. Wir haben dann auf der lokalen Ebene gearbeitet. Als der Winter kam, haben wir warme Kleidung und Lebensmittel für die Guerilla in den Bergen gesammelt. Zum Beispiel hat eine Familie ein Kilo Reis gegeben, eine andere ein Kilo Zucker oder Bulgur. Wir haben alles in Säcke verpackt und in die Berge geschickt.
Der syrische Staat hat nach uns gefahndet. Aufgrund dieser Bedingungen mussten wir oft die Versammlungsorte wechseln. Damals wurde gemeinschaftlich Land bewirtschaftet. Es wurden Kichererbsen, Linsen und Baumwolle gepflanzt. Diese Arbeit haben wir oft mit unseren Kindern auf dem Rücken gemacht. Alles Geld, das damit eingenommen wurde, ging an die Organisation.
Unter diesen Bedingungen haben wir bis zum Beginn der Revolution in Rojava gearbeitet. Wir haben uns selbst als Teil der Bewegung gesehen. Zunächst wurden überall Räte aufgebaut, Dorf- und Stadträte. Wir haben in den Schulen Kurdisch-Unterricht gegeben, damit die Jugendlichen ihre eigene Sprache lernen. Natürlich gab es Diskussionen, einige meinten, es sei nicht die Zeit, um Räte aufzubauen oder Kurdisch zu unterrichten, erstmal müsse die Revolution anfangen. Aber alle haben etwas beigetragen. Als der geheime Stadtrat aufgebaut wurde, habe ich darin eine Aufgabe übernommen.
Hast du Abdullah Öcalan persönlich getroffen?
Ja, drei Mal habe ich ihn gesehen. 1990 sind wir als eine Gruppe von Frauen nach Damaskus zu einer Versammlung mit ihm gefahren. Das Treffen mit ihm hat uns sehr viel Kraft und Energie gegeben. Er hat eine ganz spezielle Art, von der du nicht unberührt bleibst.
Unser Haus war ein Treffpunkt für die Hevals, auch Kuriere kamen immer wieder zu uns. In unserem Haus kamen außerdem viele Verletzte unter. Alle, die vom Ausbildungslager der Guerilla im Libanon in die Berge gegangen sind und auf Durchreise waren, kamen bei uns vorbei.
Wie hat die Revolution begonnen?
Die Revolution kam mit der Wärme des sogenannten Arabischen Frühlings. Alle beteiligten sich, einige hatten zwar Angst, haben sie aber überwunden und kleinere Aufgaben übernommen. Andere haben jedoch das Land verlassen, sie glaubten, es sei Krieg ausgebrochen. Als der Tag kam und der Krieg in Rojava begann, hatten wir einen Plan gemacht. Wir haben gesagt, wir werden jeden Ort der Regierung nacheinander umstellen und einnehmen und den Staat aus allen seinen Einrichtungen hinausdrängen.
Du hast zur Waffe gegriffen?
Ja, ich nahm meine Waffe und bin gemeinsam mit meinen Söhnen Mazlum und Rojhat losgegangen. Alle sind mit ihren Waffen zu verschiedenen Orten gegangen. Wir sind zum Gericht und haben dort die Armee hinausgeworfen. Mein Sohn Mehmet kam auch noch. Wir hörten Schüsse in der Stadt.
Es war also die Bevölkerung, die alle Regierungsinstitutionen eingenommen hat?
Wir hatten uns aufgeteilt, auf die politischen Institutionen, militärischen Stützpunkte und die Sicherheitskräfte. In jeder Gruppe waren ein paar Frauen und Männer und die Hevals. Wir haben den Vertretern des Staates gesagt: „Ihr müsst jetzt gehen. Und wenn ihr nicht von selbst geht, dann werfen wir euch hinaus.“ Die Staatskräfte haben uns einige Punkte überlassen. Die politischen Institutionen haben drei Tage Widerstand geleistet und die militärischen zwei Tage lang.
Wie viele Menschen haben sich da beteiligt?
Das kann ich nicht mehr sagen, es waren sehr viele. In unserem gemischten Rat waren wir ca. 200 Frauen und Männer. Und diese 200 haben sich eigentlich alle beteiligt. Niemand hätte gesagt, nein, dort- oder dahin gehen wir nicht. Zum Beispiel bin ich Mitglied des Rates und meine Kinder Rojhat und Mazlum waren im Jugendrat. Mein Sohn Mehmet und meine Tochter Leyla waren in den YXG. Jede Familie und drei oder vier ihrer Kinder haben sich beteiligt. Damals ist das ganze Volk aufgestanden. Die, die organisiert waren, sind alle gekommen. Die Hevals haben uns gerufen, sie sagten, wir sollten mitkommen. Sie waren ganz vorne und haben uns gezeigt, wo wir stehen sollten, um ihnen Rückendeckung zu geben. Von unserem Frauenrat haben alle eine Waffe in die Hand genommen.
Wir haben wir ihnen alle Häuser abgenommen. Das Gebäude, in dem jetzt der Frauenrat ist, war die Geheimdienstzentrale. Vielleicht habt ihr das bemerkt, jede staatliche Institution hat ihre eigenen militärischen Strukturen. Alle haben ihre eigenen Kräfte und wir haben alle hinausgeworfen. Im Gericht waren die Staatspolizei und die Gefängnisverantwortlichen. Das waren alles Soldaten mit Kampferfahrung, aber sie haben nicht geschossen. Sie haben gesagt: „Wir holen die Familie und Kinder und dann gehen wir.“ Sie haben die Schlüssel genommen und sind zu einer kurdischen Familie in einem Dorf gefahren. Dort haben sie drei Tage gewartet. Diese Familie war Agent des Staates.
Kurz danach haben wir das Regime dann auch aus Qamişlo vertrieben. Es gibt dort ein paar wenige Orte, an denen es geblieben ist, dort ist es bis heute. Überall sonst ist es gegangen.
Wie hat die Bevölkerung in den ersten beiden Tagen reagiert?
Die meisten versteckten sich, aber alle, die organisiert waren, haben uns unterstützt. Viele hatten Angst und befürchteten, der Staat werde kommen und ihnen alles nehmen. Als nach ein paar Tagen klar war, dass der Staat weg ist, und es ein wenig ruhiger wurde, haben wir die Familien besucht und sie waren erleichtert, dass nicht viele ums Leben gekommen waren. Und sie haben begonnen, sich ebenfalls zu beteiligen.
An einigen Orten haben sich uns sehr bald Menschen angeschlossen, es gab viel Begeisterung. Wir wollten verhindern, dass etwas zerstört wird. Wir haben nichts niedergebrannt. Wir haben niemandem etwas getan und daher sind auch viele zu uns gekommen. Wir waren alle in Räten organisiert. Unsere Aufgaben waren klar. Die Hevals aus dem politischen Bereich zum Beispiel übernahmen die Archive, die an sichere Orte gebracht wurden. Diese Papiere sind zum Teil bis heute noch nicht vollständig ausgewertet. Es gibt ein paar Leute, Studierende, sie öffnen die Archive und werten sie aus. So kam zum Beispiel heraus, wer von den Kurden beim Geheimdienst war und für den Staat gearbeitet hat. Bis heute werden noch Namen bekannt.
Die Hevals von den Sicherheitskräften hatten vorher in einer Sitzung gesagt, es sollten alle darauf achten, dass nichts zerstört wird und wir alles weiter benutzen können. Daher haben wir darauf geachtet, dass nicht geplündert wird. Kleidung und persönliche Dinge konnten die Staatsvertreter und ihre Familien mitnehmen.
An dem Tag, als wir das Gericht befreit haben, haben wir sieben Autos voll mit Waffen beschlagnahmt, auch Medikamente. Später wurde alles neu verteilt.
Als die Stadt befreit war, habt ihr da ein Fest gefeiert?
Die Menschen waren sehr glücklich. Es war wie ein Aufstand, alle gingen auf die Straße und haben demonstriert. An anderen Orten gab es auch Kampfhandlungen, in Dêrik jedoch nicht. Es gab an vielen Orten Gefallene, zum Beispiel in Til Koçer. In diesen Tagen haben wir viele Freundinnen und Freunde verloren, wir haben sie gemeinsam begraben. Es gab Tage, da waren es zehn, an anderen zwanzig. Und es gab auch Explosionen, an einigen Stellen, an denen es zu Gefechten kam, dauerte das an. Es gab jeden Tag Gefallene. In den Tagen, nachdem wir das Regime herausgeworfen hatten, haben wir nicht gefeiert. Wir waren auf der Straße. Wir waren bei den Kontrollposten, wir haben die Verteidigung übernommen, es hätte ja sein können, dass der Staat zurückkommt und es Auseinandersetzungen gibt. Wir haben alles gesichert und verteidigt, aber gefeiert haben wir nicht, nein.
Wir haben die Alltagsaufgaben und die Organisierungsarbeit übernommen. Wir haben nichts ruhen lassen und keine Pause gemacht. Jeden Tag haben wir einen Plan gemacht, was gemacht werden muss. Einmal die Woche haben wir unsere Sitzung abgehalten. Wir haben unsere Verantwortungsbereiche aufgeteilt und Fortbildungen organisiert. Das haben wir alles gemeinsam gemacht. Wir haben den Menschen aus der Bevölkerung die Aufgaben des Krieges beigebracht und sie an Waffen ausgebildet. Wir haben Schulen eröffnet.
Zunächst waren wir in der Leitung der Stadt Dêrik drei Frauen und sieben Männer. Es gab eine Gruppe, die für die Sicherheit sorgen sollte. Auch an diesen ersten lokalen Sicherheitskräften waren Frauen beteiligt. Alle mussten mehrere Aufgaben übernehmen. Ich war zum einen in der lokalen Selbstverteidigung, dann war ich im Stadtrat und gleichzeitig habe ich mich auch am Aufbau eines Kunst- und Kulturkomitees beteiligt. Später habe ich auch Aufgaben für die Frauenbewegung übernommen. Ich war für den christlichen Stadtteil Hara Sukê zuständig.
Das sind die alltäglichen Arbeiten, die wir gemacht haben. Das dauert nun schon einige Jahre an. Wir haben auch mit Araberinnen gearbeitet. Bis nach Til Kocer sind wir gegangen und bis Rimelan, ich habe arabische und christliche Frauen organisiert. Wir haben uns mit ihnen getroffen und ihnen die Arbeit der Frauenbewegung näher gebracht.
Die Revolution ist inzwischen keine kurdische Revolution mehr. Insbesondere die arabischen Frauen stürzen sich mit großer Energie in den Aufbau der Revolution.