Am 3. August 2014 überfiel die Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) Şengal (Sinjar, Nordirak). Durch systematische Massaker, Vergewaltigung, Folter, Vertreibung, Versklavung von Mädchen und Frauen sowie der Zwangsrekrutierung von Jungen als Kindersoldaten erlebte die ezidische Gemeinschaft einen weiteren Völkermord in ihrer Geschichte. Mindestens 10.000 Menschen wurden getötet. In Şengal wurden 83 Massengräber mit Opfern des Völkermords gefunden, aber nur rund die Hälfte von ihnen wurde bisher geöffnet. Mehr als 400.000 Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. Über 7.000 Frauen und Kinder wurden verschleppt, von welchen bis heute noch 2.700 vermisst werden. Daher stellt dieser Genozid in seiner Form zugleich auch einen Feminizid dar.
Einstimmige Anerkennung im Bundestag
Am 19. Januar 2023 beschloss der Deutsche Bundestag einstimmig und unter anhaltendem Beifall im ganzen Hause den Antrag zur Anerkennung und zum Gedenken an den Völkermord an den Ezid:innen 2014. Zwei Jahre danach befragt ANF Menice Günay und Ayfer Özdogan, Moderatortinnen beim ezidischen Sender Çira TV, zu den Hintergründen und Konsequenzen dieser Anerkennung. In der damaligen Debatte überraschte eine Partei mit ihren Positionen, auch dies ordnen die beiden Ezidinnen ein.
Menice und Ayfer, welche Konsequenzen sind zwei Jahre nach der Anerkennung des Genozids an der ezidischen Bevölkerung durch den deutschen Bundestag erkennbar?
Konsequenzen für wen ist die Frage? Für die Täter:innen, für die Betroffenen, für das Handeln des deutschen Staates?
Bisher wissen wir von nur einem Fall, in dem eine Person von einem deutschen Gericht wegen Völkermords an den Ezid:innen oder Beihilfe zu diesem verurteilt wurde. Auch gab es bisher keinerlei Bemühungen der Bundesregierung, sich für eine vollständige Aufklärung des Genozids einzusetzen. Es sind heute, über zehn Jahre nach dem Genozid, noch immer viele Fragen offen:
Wie wurde dieser Genozid geplant? Wie wurde er finanziert und über welche Wege und Konten ist das Geld geflossen? Wie war die Logistik organisiert? Zehntausende Menschen aus aller Welt sind seinerzeit nach Syrien und in den Irak ausgewandert, um im „Kalifat“ zu leben. Wie? Woher kamen die Waffen? Was ist mit den vielen „IS“-Tätern, die heute in Deutschland unbehelligt ihr Leben leben? Was ist mit den deutschen Staatsbürger:innen, die seit acht, neun Jahren in den Camps Hol und Roj (Nord- und Ostsyrien) leben? Wann kann die DAANES diese endlich nach Deutschland überführen und wann wird der deutsche Staat diese Menschen für ihre Taten vor Gericht stellen und zur Verantwortung ziehen? All diese Fragen sind unbeantwortet.
Deutschland schiebt Ezid:innen ab
Was wir aber sehen können, sind Konsequenzen für die Ezid:innen selbst. Nicht lange nach der Entscheidung des Bundestages, den Genozid anzuerkennen, besuchten die Außenministerin sowie die Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe den Irak und die Kurdistan-Region des Irak. Dort trafen sie sich mit Delegierten der irakischen und kurdischen Regierungen. Beide sind in den Augen der ezidischen Bevölkerung Mittäter und „Ermöglicher“ des Genozids. Für ihre Kollaboration mit dem „IS“ gibt es viele Belege. Nach diesem Besuch wurde der Irak zu einem sicheren Herkunftsland erklärt und Ezid:innen wurden abgeschoben.
Die Stimmen in Şengal werden nicht angehört
Die Region Şengal und ihre Bevölkerung sowie die Überlebenden, mit anderen Worten den Ort, an dem der Genozid stattfand, besuchte die Bundesregierung nicht. Die Überlebenden, Betroffenen und Angehörigen, die dort ihre Heimat wiederaufbauen, hörten sie nicht an. Die Forderungen, Ideen und Hoffnungen dieser Menschen wurden nicht wahrgenommen. Bestimmten Fragen wurde bewusst aus dem Weg gegangen: Was ist mit den Massengräbern? Was ist mit den tausenden bis heute verschwundenen ezidischen Frauen? Wie wird den Überlebenden geholfen? Wie kann man garantieren, dass so etwas nie wieder passiert?
Deutsche Gratulation für Dschihadisten
Und schließlich zeigt auch der kürzliche Besuch der Außenministerin Annalena Baerbock in Syrien, bei dem sie einem weltbekannten Al-Qaida Täter und Dschihadisten zur Machtergreifung gratulierte, sehr genau, wie ernst es die Bundesregierung und der deutsche Staat mit der Anerkennung des Genozids meinen.
Wie kam es denn überhaupt zur Anerkennung und welche Hoffnungen waren damit verbunden?
Für die Anerkennung des Genozids wurde eine Petition im Bundestag eingereicht. Junge Ezid:innen fanden sich zusammen und beschlossen, dass es Zeit ist, dass Deutschland, als die Heimat der größten ezidischen Diaspora, diesen Genozid anerkennt. Sie verfassten die Petition und sammelten auf den Straßen Unterschriften. Fast 58.000 Unterschriften wurden binnen kürzester Zeit gesammelt. Diese Eigeninitiative und Hingabe der jungen Generation ist wirklich bemerkenswert. Traurig ist, dass der deutsche Staat nicht von selbst auf die Idee gekommen ist, sondern dass Ezid:innen dafür kämpfen mussten.
Eine Partei, die mit überraschend umfassenden Positionen in der Bundestagsdebatte auftrat, war die AfD. Welche Motivation seht ihr dahinter?
Das stimmt. Die AfD hat sich sehr laut für die Anerkennung des Genozids an den Ezid:innen eingesetzt. Ich glaube, wir haben alle noch diese schrecklichen Bilder der „IS“-Herrschaft im Kopf. An den wenigsten Menschen sollte das spurlos abgeprallt sein. Auch nicht an AfD Mitgliedern und Abgeordneten. Die AfD ist eine Oppositionspartei und spricht dementsprechend Dinge und Forderungen aus, vor denen sich die Regierungsparteien scheuen. In diesem Fall haben sie dieses Instrument zu unseren Gunsten genutzt.
AfD und Ezidentum passen nicht zusammen
Die AfD ist aber nun mal eine rassistische und fremdenfeindliche Partei. Das verbirgt sie auch nicht. Sie sagt sinngemäß: „Was euch passiert ist, ist schrecklich. Daran Schuld sind Araber und Muslime. Ihr seid ja auch von da und quasi Türken, Syrer, Iraker. Wir wollen euch hier nicht. Hier ist euer One Way Rückflugticket. Klärt das unter euch. Dort. Nicht hier. Ihr gehört hier nicht her.“
Ein kurdisches Sprichwort sagt: „Ein berechenbarer Feind, ist allemal besser als 100 Freunde, auf die man sich nicht verlassen kann, die nicht ehrlich sind.“
Alle, die sich ein wenig mit dem Ezidentum auseinandergesetzt haben, wissen, dass das Weltbild der AfD und das Ezidentum nicht zusammen passen. Und den Ezid:innen ist das klar, sie verstehen es und sie können damit arbeiten.
Und wie steht es nun um die konkrete „Ezid:innen-Politik“ der AfD?
Es gibt keine. Sie haben für die Anerkennung des Genozids gestimmt. Das war’s. Mehr kam nicht. Also wirklich gar nichts. Sie wollen alle „Fremden“ abschieben. Dazu zählen auch Ezid:innen. Daraus machen sie kein Geheimnis. Als Oppositionspartei ist die AfD opportunistisch. Sie instrumentalisiert Themen, um sich von der Regierung abzuheben. Sie muss keine Wahlversprechen halten. Und sie ist auch niemandem wirklich Rechenschaft schuldig für diejenigen Dinge, die sie nicht getan hat.
Doch auch die anderen Parteien haben keine sogenannte „Ezid:innen-Politik“. Nicht zuletzt die Tatsache, dass es eine Petition brauchte, damit der Bundestag den Genozid anerkennt, hat dies gezeigt.
Welche konkreten Perspektiven gibt es für die Ezid:innen?
Ezid:innen wissen, dass sie nicht auf einen Heilsbringer warten dürfen. Sie organisieren sich in ihren Vereinen, betreiben ihre eigenen Informationskanäle und haben einen eigenen TV Sender. Die Petition zur Anerkennung des Genozids war ihre Initiative. Sie müssen ihre eigene Interessenvertretung sein, ihre eigene Stimme. Das zeigt die ezidische Gemeinschaft in Şengal sehr gut: Nach dem Genozid sind sie in ihre Heimat zurückgekehrt, haben sich organisiert und ihre Selbstverwaltung aufgebaut. Sie unterhalten diplomatische Beziehungen zu anderen Völkern und Staaten in der Region. Sie haben ihre eigenen Verteidigungseinheiten. Und zwar als Konsequenz dessen, dass die jüngste Geschichte erneut gezeigt hat, dass sie sich nicht auf andere verlassen dürfen.