Im Hochsicherheitsgefängnis der nordkurdischen Provinz Wan befinden sich rund 140 politische Gefangene in einem Hungerstreik. Mit dem am Donnerstag vorerst für drei Tage begonnenen Protest wollen sie erreichen, dass die Todesumstände von Ramazan Turan restlos aufgeklärt und mögliche Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen werden. Der 70-jährige Kurde aus Colemêrg (tr. Hakkari) kam am 20. oder 21. Januar unter verdächtigen Umständen ums Leben. Behördenangaben zufolge soll er einen tödlichen Herzinfarkt erlitten haben. Ein Mitgefangener Turans, der siebzehn Tage lang in derselben Quarantänezelle festgehalten wurde, spricht dagegen von „Mord durch Unterlassen“. Uzan Tokay unterstellt dem Gefängnispersonal und dem Anstaltsarzt, ihre Garantenpflicht verletzt zu haben. Sie hätten die Gefahr für das Leben von Ramazan Turan erkannt, sich jedoch geweigert zu handeln.
Mitgefangener: Dreizehn Stunden unterlassene Hilfe
Ramazan Turan befand sich erst seit gut drei Wochen aufgrund eines rechtskräftigen Urteils über sechs Jahre und drei Monate Freiheitsstrafe wegen vermeintlicher PKK-Mitgliedschaft im Hochsicherheitsgefängnis in Wan in Haft. Obwohl vorgesehen ist, Neuankömmlinge für maximal vierzehn Tage in Quarantäneräumen unterzubringen, wurde der Mann seine gesamte Haftzeit über in der Zelle festgehalten – ohne jegliche Bedarfsgegenstände. Am 20. Januar klagte Turan laut Tokay über eine schlechte körperliche Verfassung. Mehrmals habe dieser daraufhin den Notfallknopf betätigt und das Personal verständigt. Zunächst habe es geheißen, man würde sich nach dem Zählappell um Turan kümmern. Als Stunden später noch immer keine Hilfe kam und Turans Hals so weit angeschwollen war, dass dieser noch nicht mal Wasser trinken konnte, habe Tokay weitere fünf Male den Notfallknopf gedrückt. Ein hinzugezogener Gefängnisarzt soll Turan daraufhin durch den Spion der Zellentür begutachtet und ein schleimlösendes Mittel verordnet haben. Es habe geheißen, Turan solle bis zum nächsten Tag „die Zähne zusammenbeißen“, dann würde ein Corona-Test durchgeführt werden. Tokay habe wiederholt gewarnt, dass die gesundheitliche Verfassung des Mitgefangenen „höchst besorgniserregend“ sei und er umgehend in ein Krankenhaus gebracht werden müsse. Der Mediziner habe sich dennoch gleichgültig gezeigt. Erst dreizehn Stunden nach der ersten Betätigung des Notruftasters sei der Senior vom Personal aus der Zelle geholt und in eine Klinik gebracht worden. Zu dem Zeitpunkt war Turan laut Tokay nicht mehr im Stande, aufrecht zu stehen. Deshalb musste er mit einem Rollstuhl transportiert werden. „Am nächsten Tag erfuhren wir, dass Ramazan Turan tot ist“, heißt es in einem Brief von Tokay an die Nachrichtenagentur MA, den ANF einsehen konnte.
Gefangenenrechte nicht ausgehebeln, sondern respektieren
„Die Aussagen von Uzan Tokay bestätigen auch unsere Befürchtungen, dass der Tod von Ramazan Turan billigend in Kauf genommen worden ist. Wir schließen uns daher den Forderungen der Gefangenen in Wan an und verlangen, dass aufgrund der Situation in der Zelle und der unklaren Todesumstände des Mannes umgehend Ermittlungen aufgenommen werden“, sagte Rechtsanwalt Medeni Gür am Freitag bei einer Pressekonferenz anlässlich der Bekanntgabe des Hungerstreiks in Wan. An der Zusammenkunft beteiligten sich verschiedene zivilgesellschaftliche Organisationen, darunter die Gefangenensolidarität TUHAY-DER, der Menschenrechtsverein IHD und die Rechtsanwaltskammer Wan. Gür erklärte, dass sich die am Streik beteiligten Gefangenen an das Justizministerium gewandt und einen Forderungskatalog eingereicht haben. An erster Stelle stehe der Wunsch, die Todesumstände von Ramazan Turan aufzuklären und Verantwortliche zu bestrafen. „Darüber hinaus geht es um die Freilassung der kranken Inhaftierten oder zumindest eine Strafaussetzung. Auch verlangen die Gefangenen, dass die willkürlichen Rechtsverletzungen und entwürdigenden Maßnahmen durch das Personal beendet werden. Sie wollen, dass Gefangenenrechte nicht länger ausgehebelt, sondern respektiert werden“, sagte Gür.
IHD: Mindestens 605 Gefangene lebensbedrohlich krank
Allgemein ist in den Gefängnissen der Türkei der Zugang zu gesundheitsfördernden Maßnahmen stark eingeschränkt, für politische Gefangene gibt es so gut wie keine Gesundheitsversorgung. Zwar hat sich die Türkei dem Prinzip „Gesundheit für Alle“, das sich die Weltgesundheitsorganisation bei ihrer Gründung auf die Fahne geschrieben hat, auch verpflichtet. Dennoch finden in den Gefängnissen systematische Verstöße statt. Die Problematik betrifft insbesondere politische Gefangene. Laut den jüngsten Zahlen des IHD sind derzeit 1.604 kranke Gefangene in türkischen Gefängnissen inhaftiert, von denen 605 lebensbedrohlich krank sind. Obwohl eine Haftentlassung von schwerstkranken Gefangenen gesetzlich vorgeschrieben ist, wird sie von den türkischen Justizbehörden jedoch in nahezu allen Fällen verweigert. Die Zivilgesellschaft spricht daher von „Feindstrafrecht“, das gegen die Gefangenen zur Anwendung kommt. Auch wenn sie sterbenskrank sind, würden die Inhaftierten aufgrund der Rachegelüste des Staates nicht entlassen.
Gür: Todespolitik hinter Gittern ein Ende setzen
„Deshalb fordern wir die zuständigen Behörden erneut auf, nationale Gesetze wie internationale Konventionen umzusetzen und der Todespolitik hinter Gittern ein Ende zu setzen“, sagte Jurist Medeni Gür. Das Recht auf Leben und das Recht auf Gesundheit seien aufgrund der besonderen Verletzlichkeit von Gefangenen höher zu gewichten als staatliche Interessen. Die Grundrechte der Inhaftierten sollten gewahrt und die menschenverachtenden Praktiken beendet werden. „Alle kranken Gefangenen müssen sofort freigelassen werden“, so Gür. Die Pressekonferenz endete mit der Parole „Es lebe der Widerstand in den Gefängnissen“.