„Für einen Menschen ist das Tragen der eigenen Kleidung ein Teil seiner Persönlichkeit, es fördert deshalb die Persönlichkeit und das Selbstwertgefühl. Häftlingskleidung hat eine gegensätzliche Wirkung.“ (Prof. Dr. Köksal Bayraktar)
Als in einem anatolischen Justizgebäude ein Untersuchungshäftling mit einem T-Shirt mit der Aufschrift „hero“ zum Prozess erschien, sorgte das sofort für Kontroversen: Haben Untersuchungshäftlinge das Recht, mit einem T-Shirt vor Gericht zu erscheinen, dessen Aufschrift einen Sinn enthält? Die Frage ist hart beantwortet worden: „… Von jetzt an darf niemand mehr in eigener Kleidung erscheinen. Das sollte die Welt damit erkennen.“(1)
Aktion und Reaktion blieben nicht ohne Wirkung. Der Vorsitzende der Rechtsanwaltskammer der Türkei, Herr Metin Feyzioğlu, kritisierte die gezeigte Haltung: „Noch schlimmer als das Tragen von Einheits-[Sträflings-]Kleidung oder des Overalls ist der vermittelte Anschein, dass diejenigen, die vor Gericht stehen, damit erst noch geklärt wird, ob sie schuldig oder nicht schuldig sind, dadurch [die Einheitskleidung] eine Vorverurteilung erfahren. Das große Problem ist, dass sich das höchste Organ des Staates mit diesem Beschluss einer Rhetorik bediente, die belegt, dass es Menschen, über die erst noch ein Urteil gefällt werden soll, bereits von vornherein als schuldig betrachtet.“(2)
Auch der Vorstand der Anwaltskammer in Istanbul bringt vor, dass der Gebrauch von Einheitskleidung im Widerspruch zum Prinzip der Unschuldsvermutung steht: „In einem Rechtsstaat steht es weder einer Person noch einem Amtsträger zu, Verdächtige oder Beschuldigte ohne einen Schuldspruch durch ein Gerichtsurteil für schuldig zu befinden.“(3)
Beim Forschen nach der gesetzlichen Regelung stößt man auf einen kurzen Text im Strafvollzugsgesetz (CGTIHK – Ceza ve Güvenlik Tedbirlerinin İnfazı Hakkındaki Kanun), den Paragrafen 64. Darin steht im Hinblick auf Verurteilte, dass es für Untersuchungshäftlinge keine entsprechende Gesetzesverordnung gibt. Im Gesetz ist festgelegt, dass auch für Verurteilte die Art der Kleidung frei wählbar ist, dass es keine Vorschriften gibt, dass lediglich auf Wunsch eines bedürftigen Verurteilten ihm, den Witterungsverhältnissen und der Gesundheit entsprechend passende Kleidung zur Verfügung gestellt werden kann, dass diese aber in Form und Farbe keine Ähnlichkeit mit der Vollzugsuniform aufweisen darf.
Die Gesetzesregelung unseres Landes steht im Einklang mit den Regeln des Strafvollzugs in Haftanstalten Europas. In Absatz 20/1 und 2 des Gesetzes wird festgeschrieben, dass Inhaftierten, die nicht über geeignete Kleidung verfügen, der Witterung entsprechende Kleidung gestellt wird; weiter wird dort betont, dass diese Kleidung die Person nicht erniedrigen oder in ihrer Würde beeinträchtigen darf.(4)
Auch in der Reform des internationalen Strafrechts ist dieser Frage Raum gewidmet worden: „Für einen Menschen ist das Tragen eigener Kleidung ein Teil seiner Persönlichkeit und fördert deshalb die Persönlichkeit und das Selbstwertgefühl. Häftlingskleidung hingegen hat eine gegensätzliche Wirkung. Sollte einem Häftling Kleidung gestellt werden, dann ist ziviler Kleidung der Vorzug gegenüber Uniform zu geben.“(5)
Ähnliches begegnet uns im Rechtsvergleich. Das einzige Urteil des EGMR (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) zu diesem Thema im Fall Hadade gegen Rumänien besagt, dass in Häftlingskleidung vor Gericht zu stehen in Fällen, in denen die Öffentlichkeit zugänglich ist, mit der Absicht, den Betreffenden zu erniedrigen und in seiner Würde zu verletzen, der Beschwerdeführer als öffentlich gedemütigt zu gelten habe, ja dass sogar zu erwägen sei, ob es sich beim Ausmaß der Erniedrigung nicht gar um Folter handelt.(6)
Das Thema wurde auch in den USA diskutiert. Das Bundesgericht hat in seinem Urteil im Fall Estelle gegen Williams vom 03.05.1976 festgestellt, dass die Einheitskleidung des Angeklagten vor Gericht, wenn sie nicht dem Wohle der Öffentlichkeit diene, die Jury [bei der Urteilsfindung] beeinflussen könne, und auch die Tatsache, dass nicht inhaftierte Angeklagte eine solche Kleidung tragen, könne diskriminieren und Ursache dafür sein, dass [bei der Urteilsfindung] die Unschuldsvermutung nicht mehr zugrunde gelegt werde.(7)
In der Kritik an den Regeln zur Einheitskleidung für Untersuchungshäftlinge und Verurteilte ist immer wieder darauf hingewiesen worden, dass sie im Widerspruch zum Recht auf ein faires Verfahren und zur Unschuldsvermutung stehe. Bei gründlicherer Untersuchung zeigt sich, dass sie, wie in den Urteilen des EGMR und des Bundesgerichts der USA festgestellt, auch eine Verletzung weiterer Rechte und Freiheiten bedeutet. Das Verfahren vor dem EGMR hat sich mit der Folter, dasjenige vor dem Bundesgericht der USA mit dem Gleichheitsgebot auseinandergesetzt.
Inhaftierte in Einheitskleidung oder Overalls zu stecken und so bei Gericht vorzuführen kann eine Straftat wie Folter und Erniedrigung bedeuten, aber auch einen Verstoß gegen das Recht auf ein faires Verfahren, das Gleichheitsgebot und die Unschuldsvermutung und einen Verstoß gegen die Menschenwürde.
Jemand mit Zwang gegen seinen Willen in eine Kleidung zu stecken, ihn derart öffentlich zur Schau zu stellen, Richter, Staatsanwaltschaft, Verteidigung, Angehörigen und mit ihm in Frieden oder Unfrieden Stehenden vorzuführen, stellt eine Bedrängnis und eine Qual im Hinblick auf die Charaktereigenschaften seiner Persönlichkeit dar.
In Einheitskleidung vor den Richter gestellt zu werden, steht im Widerspruch zur Würde des Menschen und bedeutet für den Betroffenen eine körperliche und seelische Qual, und so, wie es sich auf seinen Willen und seine Auffassungsgabe auswirkt, so führt es dazu, dass er gequält und erniedrigt wird.
Es ist falsch, wenn irgendjemand in Kleidung, die er nicht tragen will, vor ein Gericht gestellt wird, das über ihn ein Urteil fällen soll, denn eine Person in dieser Situation kann ihre persönlichen Gefühle und Gedanken nicht frei äußern. Die verschiedenen Reaktionen der Verhandlungsbeobachter, ihre Handlungen, die Äußerungen von Anklage und Verteidigung, ihre Interpretation werden Wirkung zeigen auf ein unabhängiges Agieren des Angeklagten. Nicht nur hinsichtlich des Drucks, unter dem er während der Verhandlung steht, auch darüber hinaus wird es dazu führen, dass die Personen, die beim Verlassen des Gefängnistransporters, auf den Fluren des Gerichtsgebäudes öffentlich Einheitskleidung tragen müssen, immer zur Zielscheibe werden. Wie wir heute im Fernsehen verfolgen können, reicht die Reaktion der Bevölkerung auf manche Inhaftierte bis in den Gerichtssaal hinein. In einem solchen Umfeld ist es für diese Person äußerst schwer, sich selbst zu verteidigen, und ist gegen die Psyche des Menschen. Deshalb würde das Vorführen von Menschen in Einheitskleidung in einem Gerichtssaal eine Wirkung erzielen, die im Widerspruch zum Wesen des Rechts auf ein faires Verfahren steht.
Doch die negativen Wirkungen sind damit noch nicht beendet. Es wird dazu führen, dass die Gesellschaft Tausende Inhaftierte mit gleichem Aussehen insgesamt als Gruppe wahrnimmt und mit einem Allgemeinurteil belegt. Kurz, Menschen, die eine bestimmte Kleidung tragen, werden im Lichte des Allgemeinurteils bewertet und, ohne unter ihnen zu differenzieren, im Rahmen der Verallgemeinerung verurteilt werden. Das wäre eine ganz normale Folge, ist am Ende aber ein Verstoß gegen das Gebot der Unschuldsvermutung.
Das mündet schließlich darin, dass diejenigen, die sich im Gefängnis in dieser Situation befinden, die vor Gericht gestellt werden, die in den Justizgebäuden ihr Recht suchen, dass Tausende Menschen, die darauf warten, die ihnen entzogene Freiheit wiederzuerlangen, im Unterschied zu Personen mit den üblichen Vergehen einen anderen Status innehaben. Das Ergebnis: die Verletzung des Gleichheitsprinzips. Die Gesellschaft wird von einer Gruppe eine bestimmte Wahrnehmung haben und ihr gegenüber eine bestimmte Haltung einnehmen, gegen eine andere Gruppe hingegen eine ganz andere. Diese Situation stellt jedoch einen Affront gegen die Gleichheit dar.
Als Fazit dieser Vorbehalte lässt sich festhalten: Mit einem Vorgehen dieser Art würde der Zielsetzung von Gesellschaft und Zivilisation, nämlich dem Menschen und seinen Werten, ein schwerer Schlag versetzt werden. Vergessen wir eines nicht: Die Gesellschaft beruht auf jedem einzelnen Menschen und ihr einziges Ziel sind sein Wohlergehen, seine Sicherheit und sein Glück.
Fußnoten:
(1) Cumhurbaşkanı Sn. Tayyip Erdoğan’ın 04/08/2017 tarihinde Malatya’da yaptığı, „bazı tesislerin açılış toplantısı konuşması…“ www.hurriyet.com.tr 05/08/2017.
(2) Bkz. Feyzioğlu’ndan tek tip kıyafet açıklaması, www.birgun.net, 06/08/2017.
(3) Bkz. Tek Tip Elbise, Masumiyet Karinesi ve Lekelenmeme İlkesine Aykırıdır, www.istanbulbarosu.org.tr. 26/07/2017.
(4) www.justice.gov.tr/art_pix/RPE2.pdf
(5) Bkz. Timur Demirbaş, İnfaz Hukuku, 3. bs., Ankara, 2013, s.249.
(6) Ersan Şen, Tutuklunun Giydirilmesi, Hukuki haber, www.hukukihaber.net , 26/07/2017.
(7) Ersan Şen, Tutuklunun Giydirilmesi, Hukuki haber, www.hukukihaber.net , 26/07/2017.
Quelle: http://www.guncelhukuk.com.tr