Auf der englischsprachigen Website der Gemeinschaft der Gesellschaften Kurdistans (KCK) ist ein ausführliches Gespräch mit Duran Kalkan, Mitglied des KCK-Exekutivrats, veröffentlicht worden. Darin fasst er die Lage eineinhalb Monate nach der Veröffentlichung des „Aufrufs zu Frieden und einer demokratischen Gesellschaft“ des inhaftierten PKK-Begründers Abdullah Öcalan zusammen. Er betont erneut die klare Position der kurdischen Freiheitsbewegung, während die herrschenden Kreise in der Türkei keine praktischen Schritte unternehmen, und skizziert die Pflichten und Verantwortung aller demokratischen Kräfte sowie die Gefahren falscher Hoffnungen und türkischer Spezialkriegsführung. Wir geben eine Zusammenfassung in deutscher Übersetzung.
Bisher keine positiven Entwicklungen
Mehr als sechs Wochen sind vergangen, seit Abdullah Öcalan am 27. Februar einen Appell für Frieden und eine demokratische Gesellschaft an die Öffentlichkeit richtete – ein Aufruf, der international Beachtung fand. Doch trotz anfänglicher Hoffnungen ist aus Sicht der KCK keine positive Entwicklung eingetreten. Im Gegenteil: Die Isolation des inhaftierten kurdischen Vordenkers auf der Gefängnisinsel Imrali halte unvermindert an, erklärt Duran Kalkan in dem ausführlichen Interview.
„Es gibt keine Hinweise auf ernsthafte Veränderungen in Bezug auf Abdullah Öcalans Lebens- und Arbeitsbedingungen“, so Kalkan. Vielmehr setze sich das Imrali-System fort – ein System, das von Kalkan als Ausdruck systematischer Folter, Isolation und kulturellem Genozid beschrieben wird. Entgegen öffentlicher Aussagen, wonach sich die Situation innerhalb einer Woche nach Öcalans Erklärung verbessern solle, sei bis heute nichts geschehen.
Kurdische Frage ist Produkt der Gewaltgeschichte
Der von Öcalan initiierte Friedensaufruf zielte laut Kalkan nicht nur auf eine Entspannung der aktuellen Situation, sondern auf eine grundlegende gesellschaftliche Transformation. „Es war ein historischer Schritt, der über die Erwartungen hinausging. Doch wer glaubt, dass Öcalan allein das Problem lösen kann, verkennt die tiefer liegenden Ursachen des Konflikts“, betont Kalkan. Die kurdische Frage sei ein Produkt der Gewaltgeschichte und der politischen Leugnung durch Staat und internationale Kräfte, die systematisch die Existenz und Identität der Kurd:innen unterdrückt hätten.
Der Friedensaufruf, so Kalkan weiter, sei an alle Menschen gerichtet gewesen – unabhängig von Herkunft oder Position. Besonders adressiert habe er jedoch die demokratischen Kräfte in der Türkei und Kurdistan: Jugendliche, Frauen, Arbeiter:innen, Intellektuelle und Künstler:innen – also jene, die gesellschaftlichen Wandel tragen könnten.
Kritik an fehlender Umsetzung und politischem Stillstand
Trotz der symbolischen Bedeutung des Treffens zwischen Vertreter:innen der DEM-Partei und dem türkischen Präsidenten äußert sich Kalkan skeptisch hinsichtlich konkreter Fortschritte. „Es wurden viele wohlklingende Worte geäußert, doch auf der praktischen Ebene fehlen entsprechende Schritte“, so seine nüchterne Bilanz. Das Treffen sei zwar ein symbolisches Signal gewesen, jedoch seien Inhalte, Ergebnisse oder eine Implementierung bislang unbekannt geblieben.
Diese Diskrepanz zwischen Rhetorik und Realität werfe grundlegende Fragen über die Ernsthaftigkeit der Regierung auf. Kalkan warnt vor möglichen Täuschungsstrategien im Rahmen der Spezialkriegsführung, mit denen gezielt falsche Hoffnungen geweckt werden könnten.
Der dritte Weg: Demokratisierung von unten
Für die KCK-Führung ist klar: Der einzige gangbare Weg zu einer stabilen, friedlichen und gerechten Gesellschaft führt über die Entwicklung einer starken, selbstbewussten demokratischen Zivilgesellschaft. Kalkan fordert daher die demokratischen und sozialistischen Kräfte auf, sich nicht länger auf staatliche Akteure oder etablierte Parteien zu verlassen, sondern selbst aktiv zu werden.
„Warten auf das Handeln anderer ist keine Option. Der Wandel muss aus der Gesellschaft heraus entstehen – organisiert, entschlossen und eigenständig“, so sein Appell. Das gelte insbesondere für die kurdische Jugend und Frauen, die in der Vergangenheit eine tragende Rolle im Widerstand gespielt hätten.
Unbeantwortete Reaktion der PKK
Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) hatte am 1. März auf Öcalans Erklärung mit einem einseitigen Waffenstillstand reagiert und sich bereit erklärt, unter bestimmten Bedingungen – insbesondere der physischen Freiheit Öcalans – einen politischen Kongress zur Auflösung der PKK unter dessen Leitung einzuberufen. Diese Initiative sei bislang jedoch durch die anhaltende Isolation und fehlende Voraussetzungen blockiert worden.
„Rêber Apo [Abdullah Öcalan] ist der Einzige, der einen solchen Prozess glaubhaft und effektiv einleiten kann“, unterstreicht Kalkan. Weder Partei noch Bewegung allein könnten die nötigen Schritte einleiten, ohne dass Öcalan aktiv eingebunden ist. Auch aus diesem Grund habe die PKK bis heute keinen Kongress durchgeführt.
Dokumentation über die PKK findet breite Beachtung
Abschließend äußert sich Kalkan zur kürzlich gestarteten mehrteiligen Dokumentation über die Geschichte der PKK und deren politisches Umfeld. Die Dokumentations-Kommune Gulistan Tara hat eine 90-teiligen Dokumentarserie „Ji qirkirinê ber bi jiyana azad ve – Vejîna Kurd“ (dt. Titel: „Vom Völkermord zum freien Leben – Die kurdische Auferstehung“) über die Entstehung und Entwicklung der kurdischen Befreiungsbewegung produziert, die Seit Anfang April auf Stêrk TV ausgestrahlt wird (ANF berichtete). Diese Veröffentlichung habe laut Kalkan großes Interesse ausgelöst und werde nicht nur innerhalb der Bewegung, sondern auch in breiteren Teilen der Öffentlichkeit positiv aufgenommen.
„Diese Dokumentation trägt dazu bei, ein tieferes Verständnis für die Realität der kurdischen Befreiungsbewegung und die politische Biografie Abdullah Öcalans zu vermitteln“, erklärt Kalkan. Sie sei ein notwendiger Beitrag zu einer sachlichen Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart des kurdischen Widerstands – jenseits ideologischer oder medial verzerrter Darstellungen.
„Wir gratulieren und grüßen diejenigen, die sich für diese Dokumentation eingesetzt haben. Wir bringen unsere Überzeugung zum Ausdruck, dass sie ähnliche Werke noch erfolgreicher durchführen werden“, spricht Kalkan seinen Dank aus und fährt mit einer Einladung fort, „ich lade unser gesamtes Volk, insbesondere die Jugend, unsere internationalen Freund:innen und alle, die sich für die PKK interessieren, ein, diese Dokumentation mit Interesse zu verfolgen, während sie versuchen, die Realität der PKK und von Rêber Apo auf der Grundlage der Analysen und Gefängnisschriften von Rêber Apo zu verstehen.“
Prüfstein für demokratische Reife
Für Kalkan ist klar, dass kein Fortschritt zu erwarten ist, solange die gesellschaftlichen Kräfte ihre Verantwortung an andere delegieren. „Der Ruf nach Frieden und Demokratie kann nur von unten beantwortet werden – durch breite gesellschaftliche Mobilisierung und die Entwicklung alternativer Strukturen“, so sein abschließender Appell.
Die kurdische Frage bleibt damit nicht nur ein innenpolitisches Problem der Türkei, sondern ein Prüfstein für die demokratische Reife und politische Willensbildung einer gesamten Region. Ob der von Öcalan angestoßene Friedensimpuls in konkrete Veränderungen münden kann, hängt nun maßgeblich von der Reaktion der Gesellschaft ab.