Fast neun Jahre sind vergangen, seitdem ein türkisches Kampfflugzeug am 28. Dezember 2011 ein Gelände in der Nähe des Dorfes Roboskî in Qilaban bei Şirnex (türk. Şırnak) bombardierte und 34 Zivilisten, 19 davon Minderjährige, tötete. Die jungen Männer, deren Familien vom Grenzhandel lebten, kehrten in der Nacht aus Südkurdistan zurück, als sie bei dem Bombardement ums Leben kamen. Anfängliche Behauptungen der Regierung, bei der Gruppe habe es sich um PKK-Mitglieder gehandelt, wurden schnell angezweifelt, da den Soldaten die Schmuggeltätigkeit der Dorfbewohner bekannt war. Dennoch hielt Präsident Recep Tayyip Erdogan an seinem „Dank“ an die Armee fest – zur Rechenschaft gezogen wurde niemand.
„In der Türkei gehört es zur Tradition, dem Staat straflose Freiheit zum Morden zu gewähren“, sagt Tanju Gündüzalp, Sprecher der Initiative „Gerechtigkeit für Roboskî“. Erst wird gemordet, in der Regel bewusst, mit voller Absicht und ohne jeglichen äußeren Zwang, um danach die Schuld zu leugnen und die Wirklichkeit zu verdrehen. „Aber Wahrheit hat die Tugend an sich, früher oder später ans Licht zu kommen.“ Und solange es keine Gerechtigkeit für Roboskî gibt, bleibe auch der Türkei Gerechtigkeit verwehrt, meint Gündüzalp. Jeden 28. eines Monats kommt der Zusammenschluss in Ankara zusammen, um eine Bestrafung der Verantwortlichen des Massakers zu fordern. Im Normalfall finden die Mahnwachen vor dem abgesperrten Menschenrechtsdenkmal in der Yüksel Caddesi statt. Seit Ausbruch der Corona-Pandemie trifft sich die Initiative in den Räumlichkeiten des Menschenrechtsvereins IHD.
Gündüzalp bekräftigte auch bei der heutigen Zusammenkunft wieder, dass der Kampf um Gerechtigkeit für Roboskî weitergehen wird, und sie nicht müde werden, ihre Forderungen zu wiederholen, der Straflosigkeit der Urheber des Massakers ein Ende zu setzen. Auch wenn die Justiz ihnen Steine in den Weg legen würde. „Ich möchte auch an das Gewissen der Gesellschaft appellieren: Jeder Mensch, der sich selbst als solchen bezeichnet, sollte sich die Frage stellen, was er selbst für Roboskî tun kann. Wenn wir mehr sind, ist unsere Stimme lauter. Wenn wir mehr sind, können wir den Staat und diese Regierung zur Rechenschaft ziehen. Wenn wir Gerechtigkeit in diesem Land wollen, führt der Weg über Roboskî“, sagte Gündüzalp.
Zusammenkunft der Initiative „Gerechtigkeit für Roboskî“
Juristische Aufarbeitung auch nicht vor dem EGMR
Im Januar 2012, kurz nach dem Massaker von Roboskî, wurde ein Unterausschuss der parlamentarischen Menschenrechtskommission gebildet, um den Vorfall zu untersuchen. Im April erklärte der Chef des Generalstabs, dem Ausschuss würden wegen der Geheimhaltung der Untersuchung keine Dokumente übergeben, und das Militär habe sich in Bezug auf den Vorfall „entsprechend der Vorschriften“ verhalten. Schließlich kam der parlamentarische Untersuchungsausschuss zu dem Ergebnis, es habe sich bei der Bombardierung um ein „tragisches Versehen“ gehandelt.
Eine von den Familien der Getöteten im Juli 2014 eingereichte Beschwerde beim türkischen Verfassungsgericht wurde im Februar 2016 abgelehnt. Die Begründung: Anwalt Nuşirevan Elçi, Vertreter der Roboskî-Familien und Vorsitzender der Anwaltskammer von Şirnex, habe unvollständige Unterlagen eingereicht. Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), an den die Familien sich im August 2016 wandten, lehnte eine Verhandlung im Mai 2018 wegen „fehlender Unterlagen“ ab. Damit gibt es weder auf nationaler noch auf internationaler Ebene eine Gerichtsinstanz, vor der die Täter angeklagt werden könnten. Gegen die Angehörigen und Hinterbliebenen hingegen wurden Dutzende Strafverfahren aufgrund von Presseerklärungen und Demonstrationen eingeleitet. Genauso wie alle anderen Massaker an Kurden bleibt auch das Massaker von Roboskî ungesühnt.