Zwangsverwaltung ist ein Angriff auf das Zusammenleben

Die abgesetzte und durch einen Zwangsverwalter ersetzte Ko-Bürgermeisterin von Xelfetî, Saniye Bayram, beschreibt die tiefgreifenden Schäden, die durch Zwangsverwaltung angerichtet wurden, und zeigt sich entschlossen weiterzukämpfen.

Saniye Bayram, abgesetzte Ko-Bürgermeisterin von Xelfetî

Die Kurdin Saniye Bayram und der Turkmene Mehmet Karayılan wurden im März 2024 als Ko-Bürgermeister:innen für die DEM-Partei in Xelfetî (tr. Halfeti), trotz Wahlbetrug durch das türkische Regime, mit fast 40 Prozent der Stimmen gewählt. Vor einer Woche wurden sie vom Innenministerium abgesetzt, an ihrer Stelle wurde ein AKP-treuer Beamter als Zwangsverwalter eingesetzt.

Xelfetî ist eine Stadt mit einer uralten Geschichte, die weit ins assyrische Reich zurückreicht. Von den Assyrern bis zu den Medern, von den Persern zu den Makedonen, von Rom bis zum Osmanischen Reich hat die Stadt bis heute viele Herrscher kommen und gehen sehen. Ihre Geschichte ist mit Personen wie Abraham, Alexander und Saladin verbunden.

Immer war Xelfetî eine multikulturelle Stadt. Kurd:innen, Turkmen:innen und Araber:innen leben hier schon lange friedlich zusammen. Heute ist der Name Xelfetî eng mit dem Dorf Amara (Ömerli) verbunden, dem Geburtsort des kurdischen Denkers und politischen Repräsentanten Abdullah Öcalan. Hier wurde der Keim für eine Renaissance der Demokratie im Nahen Osten gelegt und es kommt nicht von ungefähr, dass genau hier, wenige Tage, nachdem ein Besuch bei Abdullah Öcalan nach mehr als drei Jahren Totalisolation möglich war, die gewählten Ko-Bürgermeister:innen vom Regime abgesetzt wurden.

Der DEM-Abgeordnete Ömer Öcalan berichtete nach dem Besuch bei seinem Onkel Abdullah Öcalan, er habe dem PKK-Begründer erzählt, dass das Bürgermeister-Duo in Xelfetî aus einem Turkmenen und einer Kurdin besteht. Daraufhin habe Abdullah Öcalan über Xelfetî gesprochen und gesagt: „Das ist mein Projekt. Das ist die Demokratische Nation."

Im Gespräch mit der Tageszeitung Yeni Özgür Politika äußerte sich Saniye Bayram zu den aktuellen Entwicklungen.

Die Ko-Bürgermeister:innen von  Xelfetî, Saniye Bayram und Mehmet Karayılan, wurden vom Regime abgesetzt © MA

Ich habe die Fahne des Widerstands übernommen“

Saniye Bayrams Geschichte ist eng mit dem Kampf der kurdischen Demokratiebewegung verbunden. Ihr Bruder Mustafa Bayram war 2016 Ko-Bürgermeister von Xelfetî für die Partei der Demokratischen Regionen (DBP). 2016 wurde er abgesetzt und inhaftiert, im Rathaus wurde ein Zwangsverwalter eingesetzt. Acht Jahre befand er sich in Haft, nun lebt er im Exil. Für Saniye Bayram war diese Inhaftierung Anlass, um den Kampf ihres Bruders zu übernehmen. Sie erklärte: „Im Jahr 2014 haben wir die Stadtverwaltung hier erneut gewonnen, wir haben in der Stadtverwaltung den Ko-Vorsitz eingeführt und eine sehr schöne Arbeit gemacht. Leider wurde 2016 ein Zwangsverwalter eingesetzt. Einer derjenigen, die am meisten gelitten haben, war mein Bruder, er war jahrelang im Gefängnis. Weniger als ein Jahr war er draußen, als man ihn erneut verurteilte. Er befindet sich derzeit im Exil. Die Repression hat mich stärker gemacht. Unser Freund Bazo Yılmaz war Ko-Bürgermeister von Yukari-Göklü und bei den Wahlen 2014 Mitglied des Stadtrats von Xelfetî. Im Jahr 2016 wurde er bei der Ernennung des Zwangsverwalters inhaftiert. Er war krank, hatte Asthma und es ging ihm sehr schlecht. 24 Stunden transportierten sie ihn zu einer Anhörung im Gefangenentransporter nach Istanbul, dann brachten sie ihn wieder 24 Stunden zurück nach Riha (Urfa). 2022 kam seine Leiche aus dem Gefängnis. Sein Körper wurde in unsere Stadt gebracht und wir konnten ihn in der Leichenhalle sehen. Wir sahen mit eigenen Augen, dass seine Hände noch mit Handschellen gefesselt waren. Möge seine Seele in Frieden ruhen. Die Träger der herrschenden Mentalität haben sogar Angst vor unseren Leichen. Das haben wir nie vergessen. Nachdem ich das gesehen habe, habe ich mich als Kandidatin aufstellen lassen.“

Trotz Sammelstimmenabgabe haben wir gewonnen“

Saniye Bayram berichtete von Versuchen der AKP/MHP-Koalition, die Kommunalwahl am 31. März zu manipulieren. Sogar von der Schwarzmeerküste wurden Wähler nach Kurdistan transportiert, um dort insbesondere in den Grenzregionen abzustimmen. Aber dennoch war die Regierung nicht in der Lage, die Wahl in Kurdistan für sich zu entscheiden. Eine der besonders vom Wahlbetrug betroffenen Städte war Xelfetî. Bayram führte aus: „Die Zwangsverwalter haben den Völkern in der Türkei geschadet, sie haben Kurdistan geschadet, und sie haben insbesondere Xelfetî geschadet. 2016 wurde hier ein Zwangsverwalter ernannt, 2019 traten wir wieder an, aber die Wahl wurde durch Betrug [vom Regierungsblock] gewonnen. 5.000 Wähler aus Istanbul wurden nach Xelfetî zum Wählen geschickt. Am 31. März sind wir erneut zur Wahl gegangen, es wurden wieder Tausende Wähler hierher geschickt. Sie kamen in Gruppen von jeweils 200 Personen, begleitet von fünf bis zehn Panzerfahrzeugen, bewaffnet mit Schlag- und Schusswaffen. Wir haben uns dagegen gewehrt. Das war das Klima dieser Wahl. Am Wahltag konnten wir bis zwölf Uhr nichts unternehmen. Bis dahin wurden 2.500 Stimmen im Block abgegeben. Wir konnten erst danach intervenieren. Die Stimmen mussten dann annulliert werden. Wir haben trotzdem mit dem Abstand von 1000 Stimmen gewonnen.“

Wir schufen alles aus dem Nichts“

Die Zwangsverwalter haben in den vergangenen acht Jahren schweren Schaden angerichtet. Das Rathaus glich einer Polizeifestung. Saniye Bayram berichtete: „Es war so, dass zehn Polizisten am Vorhofeingang standen, 15 Polizisten am Eingang und 20 Polizisten in der oberen Etage. Das Rathaus unterschied sich nicht von einer Polizeistation. Die Leute wollten das Rathaus nicht mehr betreten. Nachdem wir gewonnen hatten, strömten die Menschen hinein. Wir öffneten die Türen des Rathauses für alle Bürgerinnen und Bürger, wir empfingen zwei Monate lang Gäste – vier Tage nach der Wahl war das Zuckerfest – wir beherbergten in dieser Zeit dreitausend Menschen. Zunächst sammelten wir mit Finanzberatern und Buchhaltern alle Daten über das Rathaus. 460.601.277 TL Schulden wurden festgestellt. Dann erfuhren wir von den Schulden bei den Gewerbetreibenden in Xelfetî. Unsere Gemeinde ist mit 43.000 Einwohnerinnen und Einwohnern klein. Für die Menschen gab es keine Dienstleistungen. Wir haben aus dem Nichts eine Fülle von Angeboten geschaffen. Hier leben Menschen türkischer und kurdischer Identität zusammen. In sieben Monaten haben wir fast vier Millionen TL Schulden bezahlt. Wir haben uns mit unserem Volk zusammengesetzt, wir haben über die Verschuldung berichtet und die nächsten Schritte erklärt. Sieben Monate lang waren wir bei den Menschen und wir haben mit ihnen zusammen Kommunalpolitik gemacht.“

Sie haben alles gestohlen und wurden nie satt“

Saniye Bayram weiter: „Sie haben die Türkei zerstört, sie haben Kurdistan zerstört. Was haben diese Zwangsverwalter in acht Jahren für die Menschen getan, außer ihnen zu schaden? Sie haben 800 Grundstücke verkauft, kein Cent davon ist in die Gemeinde geflossen, keine Leistung wurde erbracht. Dieses Geld kam nicht einmal zur Bank in Xelfetî. Sie trugen das Geld in Taschen und Koffern weg. Die Stadtverwaltung von Xelfetî wurde um 20 Jahre zurückgeworfen. Alles wurde geraubt. Auch wenn ihre Taschen voll sind, bleiben sie unersättlich. So sind die Zwangsverwalter. Zwangsverwalter sind Feinde der Frauen, Feinde des Volkes.“

Die Demografie der Region wird aktiv verändert“

Saniye Bayram warnte vor einer aktiven Veränderung der Demografie von Xelfetî: „Die Zwangsverwalter wollen auch das Land der Menschen hier. Zum Beispiel verkauften sie 60 Hektar mit Pistazienbäumen, die meiner Familie gehörten. Sie beschlagnahmten und verkauften das Land von Hunderten von Familien. Wissen Sie, wie sie sie verkaufen? Sie konfiszieren unsere Ländereien mit angeblichen Eigentumsurkunden und sagen, dass sie Eigentum des Staates seien, und dann verkaufen sie diese. Sie achten nicht darauf, wie diese Produkte dort angebaut wurden, wie die Menschen gearbeitet haben. Bis jetzt wurden 800 Parzellen in Xelfetî an Mafiabanden verkauft. Seit sieben Monaten sehen wir, wie Menschen in die Stadt gebracht werden. Die meisten kommen von außerhalb. Wir Kurden und Türken leben zusammen, wir haben keine Probleme. Sie bringen ihre eigenen Anhänger von außerhalb, um die Demografie der Region zu verändern.“

Wenn einer von uns geht, kommen für ihn Tausend“

Bayram berichtete, dass nach dem Wahlsieg die Erleichterung in der Bevölkerung der Region groß gewesen sei: „Die Menschen hier haben aufgeatmet, nachdem der Zwangsverwalter weg war. Das sagen nicht wir, sondern das sagen sogar die Polizei und der Bezirksgouverneur. Wir versuchen, unsere Stadt gemeinsam gut zu verwalten. Was will man jetzt von uns? Jedes Mal, wenn die Repression zuschlägt, werden wir stärker. Mein Bruder ist ins Gefängnis gegangen, ich habe seine Fahne übernommen und bin in seine Fußstapfen getreten. Wenn ich gehe, ist da Mehmet Karayılan, wenn er geht, sind da unsere Kinder, unsere Jugend, unsere Nachbarn und die Menschen von Xelfetî. Wenn einer geht, kommen wir zu Tausenden zurück. Niemand soll sagen, dass wenn wir weg sind, es niemanden mehr gäbe. Die, die nach uns kommen, werden den Kampf übernehmen und weiterführen.“

Wir sind der Wille des Volkes“

Saniye Bayram schloss mit den Worten: „Unser Widerstand wird weitergehen, wir werden nicht kapitulieren. Es geht nicht um Saniye Bayram oder Mehmet Karayılan. Wir haben nicht sieben Monate im Rathaus gesessen, wir haben in den Gärten unseres Volkes gesessen und für unser Volk gearbeitet. Acht Jahre lang haben sie uns wie Vampire ausgesaugt, wir werden das nicht mehr zulassen, das Volk von Xelfetî ist aufgewacht. Wir sind gewählte Vertreterinnen und Vertreter, sie sind Beamte, sollen sie ihre Beamtenarbeit machen. Wir repräsentieren den Willen des Volkes. Mein Aufruf an die Menschen in Xelfetî lautet: Lasst uns die verbrecherischen Zwangsverwalter aus unseren Rathäusern holen, lasst uns füreinander einstehen und uns gegenseitig stärken. Grüße an alle Frauen, an die Völker Kurdistans und der Türkei und unser Volk im europäischen Exil.“