Verfassungsentwurf für Syrien treibt Frauen auf die Straße

Unter dem Motto „Jin Jiyan Azadî“ protestierten in Qamişlo hunderte Frauen gegen den Verfassungsentwurf des islamistischen Übergangspräsidenten in Damaskus. „Einen Rückfall in die Diktatur werden wir nicht zulassen“, so der Frauendachverband Kongra Star.

Jin Jiyan Azadî

Der Verfassungsentwurf des islamistischen Übergangspräsidenten Ahmed al-Scharaa in Damaskus stößt in der Autonomieregion Nord- und Ostsyrien auf scharfe Ablehnung. Mit dem Entwurf drohe ein Rückfall in die Diktatur, warnt Kongra Star, der Dachverband der nordostsyrischen Frauenbewegung, und kritisiert die mangelnde Bereitschaft des neuen Regimes, Mindeststandards in Sachen Minderheitenrechte, Gleichstellung und Frauenrechte festzuschreiben und für ein freies, demokratisches, plurales und dezentrales Syrien einzutreten.

„Nein zur Verfassung, die die Rechte der Frauen und Völker ignoriert“

Hunderte Frauen gingen auf Aufruf von Kongra Star am Samstag in Qamişlo auf die Straße, „um ein Zeichen für die Forderung nach Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit“ zu setzen. Ihr Motto dabei: Jin, Jiyan, Azadî. Die Kongra-Star-Sprecherin Rîhan Loqo bezeichnete die Demonstration als kleines Abbild des Mosaiks der Identitäten Syriens und begrüßte die kurdischen, arabischen, armenischen und assyrischen Demonstrantinnen, die aus dem gesamten Cizîrê-Kanton angereist waren, um sich an dem Protest zu beteiligen. Die Demonstrant:innen zogen hinter einem Fronttransparent, auf dem „Nein zur Verfassung, die die Rechte der Frauen und Völker ignoriert“ zu lesen war, durch die Stadt. Auf einer anschließenden Kundgebung betonte Rîhan Loqo, dass der Verfassungsentwurf und die politische Agenda des neuen syrischen Regimes die Rechte der Frauen missachteten und ein religiös-nationalistisches Weltbild widerspiegelten.

Befürchtungen über Rückfall in die Diktatur

Al-Scharaa hatte den Entwurf einer vorläufigen Verfassung am Donnerstag unterzeichnet. Nach offizieller Darstellung würden darin Meinungs- und Pressefreiheit sowie die politischen Rechte von Frauen garantiert, ebenso eine strikte Gewaltenteilung. Kongra Star gelangt allerdings zu einer anderen Interpretation. Loqo zufolge garantiere das Papier keinen Schutz für die Minderheiten Syriens, und die Scharia, das Rechtssystem des Islam, werde als „die Hauptquelle“ der Gesetzgebung bezeichnet. Der selbsternannte Übergangspräsident werde mit absoluter Macht ausgestattet und habe offenbar vor, ein Präsidialsystem ähnlich dem in der Türkei einzuführen, in dem die Exekutivgewalt ausschließlich beim Staatschef und den von ihm ernannten Ministern liegt. Die Justiz sei nur auf dem Papier „unabhängig“, da al-Scharaa die Befugnis bekomme, Mitglieder des Verfassungsgerichts zu ernennen. „Wer soll das Regierungshandeln dann kontrollieren?“, fragte Loqo.

„Dieser Entwurf repräsentiert uns nicht“

Die Sprecherin von Kongra Star betonte: „Dieser Entwurf repräsentiert uns nicht.“ Er missachte Frauenrechte und schaffe keine Basis für eine gerechte und demokratische Gesellschaft. Loqo verurteilte auch die Massaker an der alawitischen Bevölkerung in den Küstenregionen Syriens und hob hervor, dass die Reaktionen der internationalen Gemeinschaft auf das Blutvergießen äußerst schwach ausgefallen seien. „Mindestens 1.500 Zivilist:innen, unter ihnen Frauen, Kinder und alte Menschen, wurden von offiziellen Sicherheitskräften und Söldnern islamistischer Milizen getötet. Frauen wurden vergewaltigt und die Häuser von Alawit:innen in Brand gesteckt. Wir erwarten nicht nur Worte. Als Frauen Nord- und Ostsyriens sagen wir: der alawitischen Bevölkerung gilt unsere volle Solidarität in dieser schwierigen Zeit und fortdauernde Unterstützung. Ihr seid nicht allein.“

Widerstand für erkämpfte Frauenrechte

Vîviyan Biho Osê, Ko-Vorsitzende des Exekutivrats des selbstverwalteten Cizîrê-Kantons, betonte ebenfalls die Notwendigkeit, dass die Rechte aller Frauen und der verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen in der Verfassung verankert sein müssten. Aktuell deute aber alles deute darauf hin, dass sich die „Arabische Republik Syrien stufenweise in eine Islamistische Republik Syrien verwandeln“ werde. „Das werden wir nicht zulassen“, betonte Osê. Sie hob hervor, dass Frauen, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit – ob kurdisch, arabisch oder assyrisch – schon immer eine wesentliche Rolle im Aufbau einer gerechten und gleichberechtigten Gesellschaft gespielt hätten und dies auch weiterhin tun würden. „Wenn unsere erkämpften Rechte in Gefahr sind, werden wir nicht zögern, Widerstand zu leisten. Wir werden unsere Errungenschaften verteidigen“, sagte Osê und beendete ihre Rede mit der magischen Formel „Jin Jiyan Azadî“.