Proteste gegen Wahlputsch in Colemêrg

Nach der Festnahme und Absetzung des Ko-Bürgermeisters von Colemêrg gab es vielerorts wütende Proteste. Die DEM kündigte landesweit unbefristete Proteste an, die CHP will eine parlamentarische Delegation entsenden.

Gewählter Bürgermeister festgenommen und abgesetzt

Nach der Festnahme und Absetzung des Ko-Bürgermeisters von Colemêrg (tr. Hakkari) hat es in der kurdischen Provinz und anderen Regionen des Landes wütende Proteste gegeben. In Colemêrg selbst zogen Parlamentsabgeordnete und Verantwortliche der DEM-Partei gemeinsam mit zahlreichen Bewohner:innen sowie Aktiven und Handelnden aus der Zivilgesellschaft mit einem Sternmarsch durch die Stadt, um den „Putsch gegen das Wahlrecht“ anzuprangern und die türkische Regierung zur Rücknahme der Entscheidung aufzufordern. Mehmet Sıddık Akış, der abgesetzte Bürgermeister der DEM, „ist unser politischer Wille“, hallte es in Sprechchören durch Colemêrg. „Wir werden nicht zulassen, dass der Staat das Treuhänderregime erneut gegen die kommunale kurdische Politik als Waffe einsetzt“, sagte der Parlamentarier Onur Düşünmez. Er kündigte eine größere Demonstration für den Abend an, zu der auch die DBP-Vorsitzenden Çiğdem Kılıçgün Uçar und Keskin Bayındır sowie weitere Abgeordnete aus Ankara erwartet werden.

 Allzweckwaffe „Terror“-Karte

Zwei Monate nach den Kommunalwahlen in der Türkei hatte das Innenministerium am Montag den DEM-Politiker Mehmet Sıddık Akış festnehmen lassen, bevor er kurz darauf seines Amtes enthoben wurde. Er war am 31. März trotz massiven Betrugsversuchen und des Einsatzes tausender Soldaten als „Geisterwähler“ mit 48,92 Prozent der Stimmen zum Ko-Bürgermeister von Colemêrg gewählt worden. Unmittelbar nach seiner Festnahme, zu der es am Morgen in Wan gekommen war, ist der von der Regierung ernannte Gouverneur für die Provinz als Zwangsverwalter eingesetzt worden; das seit dem Abend von der Polizei umstellte Rathaus wurde durchsucht. Grund dafür seien laufende Ermittlungen gegen den gewählten Bürgermeister wegen Terrorvorwürfen, hieß es aus Ankara. Die DEM weist den Vorwurf zurück.

Sitzstreik in Amed. Auf dem entrollten Transparent steht: „Taste nicht meinen Willen an“ (c) MA

Seit zehn Jahren anhängiges Verfahren

Akış wird in einem seit zehn Jahren anhängigen Prozess unter anderem Leitung und Mitgliedschaft in der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vorgeworfen, kommenden Mittwoch sollte die nächste Verhandlung stattfinden. Zusätzlich läuft gegen ihn ein neues Verfahren, ebenfalls wegen vermeintlichen Terrorverdachts. Deshalb sei er auch festgenommen worden. Die Ermittlungsakte ist allerdings unter Verschluss und selbst Akışs Anwalt hatte noch keinen Zugriff auf den Inhalt. Der 54-Jährige befindet sich weiterhin in Gewahrsam der Polizei.

„Treuhänderschaft bedeutet Putsch“ auf einem Sitzstreik in Amed (c) MA

DEM: „Putsch gegen das Wahlrecht“

Die DEM wertet die Absetzung von Akış als politisch motiviert. Es handele sich um einen „Putsch gegen den Willen der Bevölkerung und das Wahlrecht“, sagte die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Gülistan Kılıç Koçyiğit früher am Tag in Ankara. Sie kritisierte zudem, dass Akış abgesetzt wurde, ohne dass ein rechtskräftiges Urteil gegen ihn vorliege. Das sei rechtswidrig. „Mit der Entscheidung über die Zwangsverwaltung hat die Regierung damit angefangen, Rache für die Niederlage bei den Wahlen vom 31. März an unseren Gemeinden zu nehmen“, sagte Koçyiğit und kündigte an, dass es landesweit unbefristete Proteste geben soll.

Protest in Êlih (c) MA

Geschichte wiederholt sich

Bei den Kommunalwahlen Ende März hatte die Regierungspartei AKP von Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan ein historisch schlechtes Ergebnis eingefahren. Stärkste Kraft auf kommunaler Ebene wurde die größte Oppositionspartei CHP. Die DEM konnte 78 Ratshäuser gewinnen und damit ihr Ergebnis bei den vorherigen Kommunalwahlen 2019 verbessern. Damals war ein Großteil der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister im kurdischen Südosten von der Regierung wieder abgesetzt worden, viele landeten teilweise für Jahre im Gefängnis. Erstmalig das Treuhänderregime eingesetzt hatte Ankara bereits 2016 - und will die Geschichte offenbar wiederholen.

CHP protestiert gegen Absetzung und entsendet Delegation

Auch die CHP kritisierte die Entscheidung des Innenministeriums, Colemêrg unter Zwangsverwaltung zu stellen. Ihr Vorsitzender Özgür Özel wertete den Vorgang als „Angriff auf die Demokratie“ und forderte eine sofortige Rücknahme der Entscheidung. Istanbuls Oberbürgermeister Ekrem Imamoğlu verurteilte die Absetzung Akışs ebenfalls und kritisierte, dass die Praxis der Zwangsverwaltung ein Todesstoß für politische Selbstverwaltung sei und den Glauben der Menschen in die lokale Demokratie zerstöre. Parteisprecher Deniz Yücel bezeichnete den Schritt als „deutliches Zeichen der Weigerung der Regierung, sich dem Willen des Volkes zu fügen“. Dass Akış aus dem Amt gehievt und an seiner Stelle ein Treuhänder ernannt wurde, stelle eine „Intoleranz“ gegenüber der Demokratie dar. „Wögen die Anschuldigungen gegen ihn so schwer wie behauptet, hätte die Wahlbehörde seine Kandidatur wohl kaum zugelassen, erst recht nicht seinen Sieg anerkannt. Wir haben es mit einem rechtswidrigen Vorgang zu tun. Die Ernennung eines Treuhänders bedeutet, die Unschuldsvermutung zu ignorieren und den gewählten Bürgermeister ohne Gerichtsurteil für schuldig zu erklären. Wir stehen zweifellos auf der Seite des Willens der Bevölkerung von Hakkari.“ Yücel kündigte auch an, dass die CHP eine parlamentarische Delegation nach Colemêrg entsenden werde.