Perfider Coup des Justizministers
Dass die AKP-geführte Regierung von Langzeitherrscher Recep Tayyip Erdoğan ihr System der Zwangsverwaltung in den kurdischen Provinzen nach der Kommunalwahl nicht ohne Weiteres aufgeben würde, war vorauszusehen. Uneinigkeit herrschte lediglich darüber, ob das Regime in Ankara wieder die sogenannte Treuhänderkarte zückt, um den Willen der Bevölkerung zu ignorieren, oder sich einen neuen Coup einfallen lässt. Am Beispiel von Wan ist nun klar, dass letzteres der Fall ist.
Auf der politischen Landkarte der Türkei hatte sich Wan nach der Abstimmung vom Sonntag komplett in die Farbe lila gefärbt. Nicht nur wurden alle Landkreise von den Kandidierenden der DEM-Partei gewonnen. Auch sicherte sich die HDP-Nachfolgerin das Oberbürgermeisteramt der Großstadt. Gewonnen hatten das aus Abdullah Zeydan und Neslihan Şedal bestehende genderparitätische Duo, und zwar haushoch. Sie erhielten 55,5 Prozent der Stimmen, ihr unterlegener Kandidat von der AKP, Abdulahat Arvas, kam gerade mal auf 27,1 Prozent – trotz tausender ortsfremder Wähler, die von der Regierung nach Wan eskortiert worden waren, um die Ergebnisse der Wahl zugunsten Erdoğans zu beeinflussen, lag der Stimmenunterschied bei über 125.000.
Doch trotz eindeutigem Wahlergebnis erhielt nun der AKP-Politiker Arvas die Ernennungsurkunde zum Oberbürgermeister von Wan. Die Wahlbehörde begründet den von Jurist:innen als „eindeutig rechtswidrig“ eingestuften Schritt mit einem Einspruch des türkischen Justizministeriums gegen eine frühere Entscheidung, die Zeydan das Recht gewährt, gewählt zu werden. Der frühere Parlamentsabgeordnete saß mehr als fünf Jahre unter Terrorvorwürfen im Gefängnis, wurde rechtskräftig verurteilt und kam Anfang 2022 frei. Der Wahlausschuss erhob bei seiner Bewerbung um eine Kandidatur für das Oberbürgermeisteramt dennoch keinerlei Einwände. Jetzt ist klar, warum. Der Putsch gegen die DEM scheint lange geplant.
Wie die DEM-Partei und die Juristenvereinigung ÖHD am Dienstag öffentlich machten, hat das Justizministerium am letzten Freitag, nur fünf Minuten vor der Schließung des Gerichts – und weniger als 48 Stunden vor der Kommunalwahl – die Streichung der Wiederherstellung der politischen Rechte Zeydans und eine Rücknahme der Tilgung im Strafregister erwirkt. Per Blitzverfahren wurde der Antrag im Sinne des Ministeriums entschieden und der Beschluss an die Wahlbehörde übermittelt. Die ÖHD spricht von einer „Anweisung“, die „von ganz oben“ gekommen sei und erklärte: „Die Justiz hat sich ein weiteres Mal der Exekutive unterworfen. Sie hat Stunden vor der Kommunalwahl ein unzulässiges Einspruchsverfahren geführt und sich zugunsten der Herrschenden über das Recht hinweggesetzt. Die Wahlkommission der Provinz Wan hat die rechtswidrige Entscheidung des Gerichts gegen Abdullah Zeydan nicht beanstandet und den unterlegenen Kandidaten der AKP zum Oberbürgermeister ernannt. Der politische Wille des Volkes ist wieder einmal usurpiert worden.“
Die DEM-Partei bezeichnet das Vorgehen in Wan als Fortsetzung der Putschmentalität gegen die kurdische Kommunalpolitik und hat angekündigt, auf allen Ebenen gegen die Ernennung des unterlegenen Bürgermeisterkandidaten aus dem AKP-Lager vorzugehen. Vor dem Sitz des Provinzverbands der DEM in Wan sammelt sich derweil eine immer größer werdende Menschenmenge zum Protest. Sowohl im Zentrum von Wan als auch in den Landkreisen der Provinz sind Demonstrationen angekündigt.