9. Juni 2004 – Nagelbombenanschlag in Köln
Es ist der 9. Juni 2004, Köln-Mülheim. Eine Bombe voller Nägel explodiert in der belebten Keupstraße – mitten in einem Stadtteil, einem pulsierenden Ort migrantischer Selbstorganisation und ökonomischer Eigenständigkeit. Häuser zerborsten. Leben zerfetzt. Was sich hier abspielte, war kein „Einzelfall“, kein „Milieu-Konflikt“: Es war ein rechtsterroristischer Angriff. Geplant, ausgeführt und gedeckt.
Doch statt Solidarität folgte das übliche Drehbuch: Kriminalisierung der Opfer. Razzien. Verdächtigungen. Die Erzählung vom sogenannten „Dönermilieu“ – eine rassistische Chiffre, die Kriminalität vermutete, wo Solidarität nötig gewesen wäre. Was viele längst wussten, wurde systematisch verdrängt: In Deutschland wird nicht mit, sondern gegen Betroffene rassistischer Gewalt ermittelt.
Ein Jahr später, am 9. Juni 2005, trifft es Ismail Yaşar in Nürnberg. Ein kurdischstämmiger Familienvater, Betreiber eines kleinen Imbisses. Fünf Schüsse. Er stirbt in seinem eigenen Laden. Statt nach Neonazis zu suchen, verdächtigen die Ermittler Yaşar – unter anderem wegen angeblicher PKK-Verbindungen. Eine Farce, die mehr über die Behörden als über den Getöteten sagt. Rechte Täter:innen blieben unbehelligt, denn viele Institutionen wollten nicht hinschauen – oder konnten es nicht. Oder beides.
Gedenken an Hanau 2021
Was wir heute den NSU nennen, war keine abgeschottete Zelle. Es war ein ganzes Netzwerk. Es war ein Versagen auf Ansage – politisch, institutionell, medial. Akten wurden geschreddert, V-Leute geschützt, Betroffene gegängelt. Das alles ist dokumentiert. Und doch bleibt die Konsequenz aus: Niemand übernahm wirklich Verantwortung.
Enver Şimşek. Abdurrahim Özüdoğru. Süleyman Taşköprü. Habil Kılıç. Mehmet Turgut. Ismail Yaşar. Theodoros Boulgarides. Mehmet Kubaşık. Halit Yozgat. Neun Namen, neun Leben, neun Familien. Dazu die Verletzten in Köln, deren Trauma nie anerkannt wurde. Ihr Schmerz ist nicht vorbei. Er wird verschleppt, bürokratisiert, ignoriert.
Und es hört nicht auf. 19. Februar 2020, Hanau. Neun Menschen, neun Geschichten, neun Träume, ausgelöscht von einem rechtsextremen Täter – erneut mit migrantischem Feindbild, erneut mit polizeilichem Versagen, erneut mit einem Justizapparat, der zu oft schweigt, wo er handeln müsste. Wieder ringen Angehörige um Aufklärung. Wieder bleiben zentrale Fragen unbeantwortet. Wieder versagt das System – strukturell, nicht nur individuell.
Laut der Amadeu Antonio Stiftung sind seit 1990 mindestens über 220 Menschen durch rechte, rassistische oder antisemitische Gewalt getötet worden. Die Bundesregierung erkennt nur einen Bruchteil davon an. Die Dunkelziffer? Unfassbar hoch. Und sie ist Ausdruck einer Gesellschaft, die lieber vergisst als handelt.
Wer heute noch glaubt, dass Rassismus nur ein Randphänomen sei, hat nicht zugehört – oder will nicht. Rechte Gewalt in Deutschland ist kein Betriebsunfall. Sie ist eingebettet in Strukturen, Normalitäten, institutionelles Wegsehen. Und solange staatliche Stellen weiter wegschauen – oder gezielt in die falsche Richtung –, wird es neue Opfer geben.
Erinnerungspolitik heißt nicht: Trauern und zur Tagesordnung übergehen. Erinnerungspolitik heißt: Klar benennen, wer hier verletzt, wer hier schützt, und wer hier systematisch schweigt. Es heißt: antifaschistisch handeln. In Schulen, in Gerichten, auf Straßen, in Redaktionen.
Es braucht endlich eine Öffentlichkeit, die begreift: Gedenken ist kein Akt der Versöhnung, sondern eine Entscheidung des Widerstands. Und wir alle haben Verantwortung. Als Journalist:innen. Als Nachbar:innen. Als linke Bewegungen. Als Gesellschaft.
Denn die Namen bleiben. Und der Kampf geht weiter.
Erinnern heißt handeln.
Gedenken heißt organisieren.
Kämpfen heißt: ihre Namen laut sagen.