Innerhalb nur weniger Tage hat die Türkei zweimal die Region Şengal im nordwestlichen Irak angegriffen. Am Montag wurden mit Pîr Çeko und Agir Cefrî zwei Kommandanten der Widerstandseinheiten YBŞ bei einem Drohnenschlag getötet. Am Mittwoch kam Şêrzad Şemo Qasim aus der Leitung der Sicherheitsbehörde Asayîşa Êzdîxanê ums Leben – ebenfalls durch einen Luftangriff. Beide Organisationen, sowohl die YBŞ als auch Asayîşa Êzdîxanê, wurden unter dem Eindruck des 2014 von der Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS) an der ezidischen Gemeinschaft Şengals verübten Genozids gegründet. Bei vielen Angehörigen handelt es sich um Überlebende dieses Völkermords.
Die beiden Anschläge sind dabei nur die jüngsten in einer ganzen Reihe von völkerrechtswidrigen Übergriffen der Türkei in Şengal. Der Einsatz von türkischen Drohnen und Kampfflugzeugen im Kerngebiet der Ezidinnen und Eziden findet – wie auch in anderen Teilen des Iraks und in den autonom verwalteten Regionen Syriens – jedoch bereits seit Jahren statt und wird in der westlichen Öffentlichkeit und insbesondere beim engen türkischen Partner Deutschland verbissen ignoriert. Dabei hat die internationale Gemeinschaft eine zumindest moralische Pflicht, sich gegen die türkische Aggression zu positionieren und zu verhindern.
Staatsterror gegen Überlebende eines Genozids
„Die Türkei führt als Nato-Mitglied einen Drohnenkrieg gegen die kurdische Bevölkerung und terrorisiert Überlebende eines Genozids”, betont der Demokratische Autonomierat von Şengal (MXDŞ) am Donnerstag in einer Mitteilung. Die jüngsten Angriffe bildeten dabei nur die neuerliche Eskalationsphase eines ohnehin andauernden Vernichtungsfeldzuges der Führung in Ankara gegen Êzdîxan (Land der Ezid:innen), der nach Auffassung des Gremiums eine Fortsetzung des Völkermords von 2014 sei. „Pîr Çeko, Agir Cefrî und Şêrzad Şemo waren drei Angehörige unserer Sicherheits- und Selbstverteidigungskräfte, die seit dem Ferman die Existenz unseres Volkes, unseren Glauben und unsere Heimat schützten. Die Türkei hat sie gezielt ermordet. Die Absicht dahinter ist eindeutig: Der türkische Staat will das ezidische Volk seiner Schutzschilde berauben, um den Genozid des IS zu vollenden.“
Ignoranz ist „inakzeptabel und menschenverachtend“
Dass die Kriegsverbrechen der Türkei keinen öffentlichen Aufschrei erzeugten – weder bei der Zentralregierung des Iraks noch in der westlichen Welt, sei „inakzeptabel und menschenverachtend“, so der MXDŞ. Schließlich seien diese Angriffe völkerrechtswidrig. „Doch die Türkei zeigt mit ihren Bomben auf Şengal, dass sie im Irak jederzeit handeln kann, wie es ihr passt, ohne Konsequenzen zu fürchten. Dabei hatten wir als MXDŞ gehofft, dass die im Oktober gewählte neue Regierung in Bagdad einen Paradigmenwechsel vollzieht und unserem Wunsch nach Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts der ezidischen Bevölkerung und Selbstverwaltung innerhalb des irakischen Föderalstaates entgegenkommt. Doch das ohrenbetäubende Schweigen in Bagdad lässt uns zu dem Schluss kommen, dass wir uns geirrt haben, als wir Hoffnung auf die Sudani-Regierung setzten.“
Angriffe auf irakischem Territorium
Zwar kooperiert die Türkei bei ihren Angriffen auf Şengal mit der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK), die in der Kurdistan-Region Irak die Regierung dominiert. „Die Bombardierungen finden jedoch auf dem Staatsgebiet des Iraks statt, zudem liegt Şengal im Handlungs- und Verantwortungsbereich der irakischen Zentralregierung. Bagdad ist verpflichtet, aktiv zu werden, um dieser Verbrechen zu verhindern“, betont der MXDŞ. Da aber klar sei, dass es mit dieser Sicherheitslage für die zahlreichen ezidischen Vertriebenen in den Auffanglagern des Landes auch bald neun Jahre nach dem Genozid noch immer keine Zukunftsaussichten in Şengal und Perspektiven auf eine Rückkehr in die Heimat gebe, geht der Autonomierat davon aus, dass mit der jüngsten Angriffswelle ein neuer Anlauf genommen wird, dass sogenannte „Sinjar-Abkommen“ durchzusetzen.
Forderung: Bestehende Autonomie Şengals im Irak formalisieren
Bei der Autonomieverwaltung Şengals, der ezidischen Zivilgesellschaft und breiten Teilen der Bevölkerung stößt dieser im Oktober 2020 zwischen Bagdad und der südkurdischen Leitung in Hewlêr (Erbil) auf Druck der Türkei getroffene Vertrag allerdings auf Ablehnung. Der zentrale Kritikpunkt ist, dass der Deal über die Köpfe der ezidischen Gemeinschaft hinweg getroffen wurde, selbst Ansichten der Bewohner:innen nicht eingeholt wurden und das eigentliche Ziel dahinter die Aufteilung der Kontrolle über die Region zwischen PDK und damit Ankara und Bagdad ist. Der MXDŞ, der Şengal seit dem IS-Überfall im August 2014 nach dem Prinzip der Selbstverwaltung administriert, sowie die Sicherheits- und Verteidigungskräfte YBŞ und Asayîşa Êzdîxanê sollen gemäß der Vereinbarung zerschlagen beziehungsweise entwaffnet werden. Das Resultat sind massive Proteste und Widerstände unterschiedlicher Form, die eine Durchsetzung der Vereinbarung bisher verunmöglicht haben. Gefordert wird, das Selbstbestimmungsrecht der Ezidinnen und Eziden und damit politische und administrative Mitspracherechte anzuerkennen und die bestehende Autonomie Şengals im Irak zu formalisieren.
Sicherheitslage des Irak wird massiv verändert
„Wir weisen Bagdad auch darauf hin, dass die Aggression der Türkei nicht nur die Existenz der Gemeinschaft Şengals bedroht, sondern auch die Sicherheitslage des Irak massiv verändert. Die Türkei und die PDK provozieren mit ihren Angriffen eine große Vertreibungs- und Fluchtwelle, um die Entvölkerung der Region weiter voranzutreiben. Stabilität und Sicherheit im Irak liegen uns mehr am Herzen als allen anderen Parteien. Die Sicherheit und Stabilität von Şengal und Bagdad sind miteinander verknüpft. Die gesamte Öffentlichkeit, insbesondere der türkische Staat und die PDK, wissen, dass Şengal seit seinem Sieg über den IS landesweit der sicherste Ort ist. Wir sagen ganz klar, dass die Präsenz unserer Autonomieverwaltung und unserer Verteidigungskräfte die Einheit und Sicherheit des Irak stärkt. Aus diesem Grund sollte die irakische Regierung jeden Angriff auf Şengal als einen Angriff auf Bagdad betrachten und entsprechend handeln.” Die internationale Gemeinschaft ruft der MXDŞ auf, sich gegen die Türkei zu positionieren und dem ezidischen Volk solidarisch beizustehen.