Die Pläne des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan zur Ausweitung der Militäroperationen in der Kurdistan-Region im Irak (KRI) drohen einen weiteren regionalen Krieg auszulösen. Darauf weist der Nationalkongress Kurdistan (KNK) hin. In einer am Freitag veröffentlichten Erklärung des KNK-Komitees für auswärtige Angelegenheiten heißt es:
Lasst Erdogan keinen weiteren regionalen Krieg beginnen
Auf der ganzen Welt werden die Forderungen nach Frieden, Demokratie und Stabilität in Palästina, Israel und dem gesamten Nahen Osten als Reaktion auf Israels verheerenden Krieg in Gaza und die daraus resultierende regionale Eskalation immer lauter. Die gleiche Reaktion ist erforderlich, um den Krieg der Türkei, die ethnischen Säuberungen und die Verletzung des Völkerrechts im Irak, in Syrien und in Kurdistan anzugehen. Gelingt es der internationalen Gemeinschaft nicht, diese Krisen zu lösen, wird der Nahe Osten vor einem noch nie dagewesenen Krieg und Konflikt mit unumkehrbaren globalen Folgen stehen.
Erdogan braucht den Krieg, um an der Macht zu bleiben
Bei den Kommunalwahlen in der Türkei am 31. März erlitt Erdogan die schwerste Niederlage in seiner 22-jährigen Amtszeit. Fast 60 Prozent der Türkei werden nun entweder von der größten Oppositionspartei CHP (Republikanische Volkspartei) oder der friedensfreundlichen DEM-Partei (Partei für Gleichheit und Demokratie der Völker) regiert. Dies geschah trotz unfreier, unfairer Wahlbedingungen.
Wenige Tage vor der Wahl forderten Millionen Kurdinnen und Kurden bei den Newroz-Feiern (kurdisches Neujahrsfest) eine politische Lösung der kurdischen Frage. Sie argumentierten, dass dies durch die Freilassung des kurdischen politischen Führers Abdullah Öcalan ermöglicht werden kann, der seit 1999 unter unmenschlichen Bedingungen inhaftiert ist und seit über drei Jahren unter Verletzung internationalen Rechts keinen Kontakt zur Außenwelt aufnehmen darf.
Die Erdogan-Regierung ist nach wie vor nicht an einer politischen Lösung interessiert. Wie schon nach den Wahlniederlagen von 2015 und 2019 setzt sie auf eine Eskalation der Militäroperationen gegen die Kurden, um nationalistische Unterstützung zu gewinnen und Vorwände für die Unterdrückung jeder abweichenden Meinung zu finden.
Erdogan ordnet Besetzung von Irakisch-Kurdistan an
Erdogan hatte die geplante Ausweitung der türkischen Militäroperationen im Nordirak bereits am 4. März in einer Sitzung mit seinem Kabinett eröffnet. „Mit Gottes Segen“, so Erdogan, „werden wir in diesem Sommer auch die Frage unserer Grenzen zum Irak endgültig klären.“ Ziel der militärischen Bemühungen ist die Einrichtung eines „Sicherheitskorridors“ entlang der Grenze, der sich 30 bis 40 Kilometer in den Irak hinein erstreckt. Auch zahlreiche andere Vertreter des türkischen Staates, wie der türkische Außenminister Hakan Fidan, versprachen verstärkte Militäraktionen.
Die Türkei hält seit mehreren Jahren Gebiete in der KRI besetzt. Mindestens 87 türkische Militärstützpunkte und ausgedehnte militärische Straßennetze wurden in einer Tiefe von fünf bis 80 Kilometern auf irakischem Gebiet errichtet. Die Türkei hat zahlreiche Luftangriffe in der KRI geflogen, ihre Drohnenaktivitäten ausgeweitet und mutmaßlich verbotene chemische Waffen eingesetzt. Nach Angaben der Organisationen Airwars und CPT sind seit 2015 rund 170 Zivilpersonen den Angriffen zum Opfer gefallen.
Die Türkei behauptet, dass sie diese Region kontrollieren muss, um einer angeblichen „Sicherheitsbedrohung“ durch die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu begegnen. In Wirklichkeit verfolgt Erdogans Regierung jedoch andere Ziele. Kurzfristig geht es bei diesen groß angelegten Angriffen darum, die Dorfbevölkerung und Zivilpersonen in den Bergen unter Druck zu setzen und zu vertreiben, damit die Türkei ein größeres Gebiet für ihre Operationen einrichten und kontrollieren kann.
Mindestens 800 Dörfer wurden seit 2015 mit Hilfe von Barzanîs PDK (Demokratische Partei Kurdistans) zwangsgeräumt. Langfristiges Ziel der Angriffe ist es, den autonomen Status der Region Kurdistan zu zerstören und der Türkei die Kontrolle über strategisch wichtige Gebiete im Nordirak zu sichern, darunter wichtige Regionen um Mosul und Kerkûk.
Die Zusammenarbeit mit der PDK gefährdet die nationale Einheit Kurdistans
Erdogan stattete Hewlêr (Erbil), der Hauptstadt der Region Kurdistan, am 22. April einen kurzen Besuch ab. Dort sicherte er sich die Unterstützung der PDK. Seitdem berichten lokale Quellen zunehmend von provokativen Vorstößen von PDK-Milizen wie Roj-Peschmerga und Zerevanî-Einheiten in Gebiete, die von den HPG und YJA Star kontrolliert werden. Diese Kräfte haben Berichten zufolge versucht, Gebiete zu sichern, die die Türkei zu besetzen versucht.
Erdogan strebt einen innerkurdischen Konflikt zwischen der PDK, der PKK und der YNK an und nutzt dabei die Schwäche der PDK aus. Der jüngste Besuch Erdogans in Hewlêr zeigt, wie sehr der türkische Präsident auf die aktive Beteiligung der PDK an seinen Bemühungen zählt, kurdische Gebiete im Irak zu besetzen und kurdische Bestrebungen in der Türkei zu unterdrücken.
Macht braucht eine starke Wirtschaft
Erdogans Herrschaft hat die türkische Wirtschaft ruiniert. Der ständige Krieg in Kurdistan, einschließlich der Einrichtung von Hunderten Militärstützpunkten, der Finanzierung extremistischer Stellvertreter-Milizen und der Beschaffung von Waffen und anderen Ressourcen, hat die Ressourcen des Staates erschöpft und oft internationale wirtschaftliche Folgen nach sich gezogen.
Infolgedessen befindet sich die türkische Lira seit 2020 in einer schweren Währungskrise. Die Inflation steigt stetig an. Seit März 2024 ist die Türkei mit 68,5 Prozent die Nation mit der vierthöchsten jährlichen Verbraucherinflation der Welt. Nach Angaben von Trading Economics übersteigt diese Rate die Inflationsraten aller afrikanischen Länder.
Im Rahmen der intensiven diplomatischen Beziehungen zwischen Ankara und Bagdad wurden in den letzten Monaten Verhandlungen über das Projekt Iraq Development Road geführt, das den Bau einer 1.200 Kilometer langen Eisenbahn- und Straßenverbindung vom irakischen Hafen al Faw in Basra durch kurdische Gebiete bis zur türkischen Grenze vorsieht, um einen dringend benötigten wirtschaftlichen Aufschwung zu ermöglichen. Die 17 Milliarden Dollar teure Entwicklungsroute soll als neue Verbindung zwischen Asien und Europa dienen und ist damit ein Gegenstück zum US-geführten Projekt IMEC (Indian Middle East Economic Corridor), das im Juli letzten Jahres auf dem G20-Gipfel in Delhi beschlossen wurde.
Allerdings scheint der türkische Staat den Erfolg des Projekts von der Zerschlagung der PKK und der Schaffung einer Sicherheitszone abhängig zu machen und damit seine Expansionsbemühungen auf die Regionen Duhok, Mosul und Hewlêr auszudehnen. Bemerkenswert ist, dass die Erschließungsstraße relativ weit von den Gebieten entfernt ist, in denen die PKK aktiv ist. Die geplante Route verläuft westlich von Mosul unter Umgehung der Region Kurdistan im Irak und reicht bis zur türkischen Grenzstadt Ovakoy, einem Gebiet, in dem die türkische Armee auf irakischer Seite bereits stark präsent ist. Dennoch behauptet die Türkei, dass sie das Gare-Gebirge sichern muss, damit die Route als sicher gelten kann, obwohl das Gebirge mindestens 30 Kilometer westlich des Verlaufs der Entwicklungsstraße liegt.
Für die Türkei ist die Umsetzung des Şengal-Abkommens eng mit der Verwirklichung des Projekts verbunden. Am 9. Oktober 2020 unterzeichneten die irakische Zentralregierung und die kurdische Regionalregierung unter Führung der Familie Barzanî und unter Aufsicht der Vereinten Nationen ein Abkommen, das die Entwaffnung und Auflösung der nach dem IS-Angriff gebildeten ezidischen Widerstandseinheiten von Şengal vorsieht. Das würde bedeuten, dass die ezidische Gemeinschaft, die 2014 einen international anerkannten Völkermord erlebt hat, schutzlos und ohne jedes Recht auf Selbstbestimmung dasteht.
Unter dem Deckmantel der türkisch-irakischen Entwicklungsroute will Erdogan sein eigentliches Ziel erreichen, die türkische Besetzung des Nordiraks zu vollenden und die Region Kurdistan von Nord- und Ostsyrien abzutrennen. Dies wirft die Frage auf, ob die irakische Regierung solche türkischen Maßnahmen im Namen besserer Beziehungen tolerieren wird und ob die wirtschaftlichen Auswirkungen eines größeren Krieges in Kurdistan die angeblichen Vorteile der Route zunichte machen werden.
Der Nahe Osten als Epizentrum des globalen Konflikts
Die kurdische Gesellschaft und internationale Stimmen der Solidarität setzen sich seit Jahren für ein Ende der türkischen Kriegspolitik und der damit verbundenen Zerstörung der Lebensgrundlagen von Millionen Menschen in Kurdistan ein. Dieser Krieg hat in den letzten Jahren zu einer verstärkten Auswanderung aus Kurdistan in andere Länder geführt.
Angesichts der multipolaren Realität der Politik im 21. Jahrhundert hat jeder lokale oder regionale Konflikt heute globale Auswirkungen. Jeder staatliche und nichtstaatliche Akteur versucht, einen bestimmten regionalen Konflikt zur Durchsetzung seiner eigenen Interessen zu nutzen. Viele regionale und globale Mächte haben die Möglichkeit, das Geschehen zu beeinflussen - nicht nur eine oder zwei Mächte oder Blöcke allein. Erdogans geplanter Krieg könnte sich daher zu einem Krieg mit regionalen und globalen Auswirkungen entwickeln. Die Kurdinnen und Kurden in Syrien, im Iran, in der Türkei und im Ausland werden nicht schweigen. Die arabischen Länder und der Iran werden die türkische Aggression in ihrer Region möglicherweise nicht hinnehmen und sich zu einer Reaktion entschließen.
Verletzung des Völkerrechts, ethnische Säuberung und demografischer Wandel
Gleichzeitig versucht Erdogan, gegen die Demokratische Autonome Verwaltung Nordostsyriens vorzugehen, deren Streitkräfte gemeinsam mit internationalen Kräften den IS besiegt haben und die für ihre multireligiöse Toleranz, die Freiheit der Frauen und ihr demokratisches politisches System hohes Ansehen genießt.
Die türkische Besetzung Nordsyriens führte jedoch zu einer massiven Vertreibung der kurdischen Bevölkerung und war mit schwerwiegenden Verstößen gegen die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht verbunden, darunter wahlloser Beschuss, summarische Tötungen, rechtswidrige Verhaftungen, Folter und gewaltsames Verschwindenlassen sowie systematische Plünderungen und rechtswidrige Beschlagnahmung von Eigentum, so Human Rights Watch. Dies legt die Vermutung nahe, dass eine ausgedehnte Besetzung des Nordiraks auch zu weiteren ethnischen Säuberungen gegen Kurden und andere indigene Völker und folglich zu einem demografischen Wandel der multikulturellen Region führen wird.
Türkische Frage - kurdische Lösung
Es ist offensichtlich, dass Erdogan kein Interesse an einer Demokratisierung der Türkei hat. Auch seine außenpolitische Strategie ist darauf ausgerichtet, von Konflikten zu profitieren. Während er Russland mit Bankkonten aushalf, lieferte sein Schwiegersohn Selçuk Bayraktar Drohnen an die Ukraine. Auch im Hamas-Israel-Krieg spielte er ein doppeltes Spiel.
Erdogan versucht, die Mitgliedschaft der Türkei in der NATO, die die Türkei in den letzten 40 Jahren in ihrem Kampf gegen die Kurdinnen und Kurden stets unterstützt hat, durch eine Politik der Erpressung zu seinem persönlichen Vorteil zu nutzen. Die Deals mit Schweden und jetzt mit den Niederlanden, deren ehemaliger Premierminister für das Amt des NATO-Generalsekretärs kandidiert, zeigen, dass Erdogan seine Zustimmung zu NATO-Beschlüssen an die Bedingung knüpft, seinen Krieg gegen die Kurdinnen und Kurden zu unterstützen. Auch seine Missachtung der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der über die Freilassung einer Reihe von Oppositionellen entschieden hat, zeigt, dass er internationale Vereinbarungen zunehmend mit Füßen tritt. Die Türkei unter Erdogan ist damit zu einer internationalen Angelegenheit geworden.
Erdogan wäre zu all dem nicht in der Lage, wenn internationale Gremien wie die NATO, die EU und der Europarat nicht zu der Unterdrückungspolitik der Türkei gegenüber den Kurden schweigen würden. Die Kurdinnen und Kurden leisten seit 22 Jahren kontinuierlich Widerstand gegen das Erdogan-Regime und haben sich stets um eine politische Lösung bemüht.
Von 2013 bis 2015 brachten diese Bemühungen einige Ergebnisse. Der kurdische politische Führer Abdullah Öcalan nahm einen Dialog mit Vertretern des türkischen Staates auf. Zwei Jahre lang herrschte ein Waffenstillstand zwischen der PKK und der Türkei. Während dieser Zeit verzichtete die Türkei auf destabilisierende Militäroperationen im Irak und in Syrien und verbesserte ihre Beziehungen zu den Nachbarstaaten und zur internationalen Gemeinschaft insgesamt. Öcalan hatte in der Türkei eine Atmosphäre geschaffen, die den Menschen Hoffnung auf Frieden gab. Der Dialogprozess 2013-2015 wurde auch international begrüßt. Es war Erdogan, der diesen Prozess sabotierte, weil er diese Zeit nutzen wollte, um einen neuen Krieg vorzubereiten.
Jetzt, da Erdogan bei den Kommunalwahlen seine politische Macht verloren hat, ist er gefährlicher, wie diese Analyse zeigt. Er ist aber auch schwächer geworden. Seine Vision für die Türkei wird von vielen Bürgerinnen und Bürgern der Türkei abgelehnt und stellt eine Bedrohung für die Interessen vieler Staaten des Nahen Ostens und globaler Mächte dar. Um negative nationale und internationale Folgen zu vermeiden, muss die Türkei auf einen anderen Weg gebracht werden.
Es ist an der Zeit, auf die Lösung der Kurdinnen und Kurden zu hören, die seit einem Jahr fordern, dass Öcalan eine neue Chance zur Teilnahme an Verhandlungen zur Lösung der kurdischen Frage im Rahmen einer neuen Verfassung der Türkei erhalten muss. Der erste Schritt ist jedoch die Aufhebung des seit drei Jahren gegen ihn verhängten Verbots der Kommunikation mit der Außenwelt.
Die Weltöffentlichkeit, die Vereinten Nationen und der Europarat, die für die Einhaltung des Völkerrechts zuständig sind, sowie die Vereinigten Staaten von Amerika und die Europäische Union müssen unverzüglich Druck auf die Türkei ausüben, damit sie zu diesem demokratischen Prozess zurückkehrt, der die Region durch die Lösung der Kurdenfrage stabilisieren würde.
Wie der Krieg in Gaza zeigt, sind eingefrorene Konflikte von Natur aus instabil, und der Versuch, politische Probleme allein mit militärischen Mitteln zu lösen, führt unweigerlich zu weiteren Verlusten an Menschenleben und internationaler Instabilität. Nachhaltige politische Lösungen für die kurdische Frage und andere regionale Krisen auf der Grundlage von Menschenrechten, Demokratie und Völkerrecht sind der einzige Weg aus dem Blutvergießen.
Foto: 22. Generalversammlung des KNK, April 2024