Die Vielzahl iranischer Soldaten, die in Rojhilat (Ostkurdistan) und nahe der Grenze zu Südkurdistan (Kurdistan-Region Irak, KRI) stationiert sind, gehören seit Jahren zur Normalität. Seit einigen Tagen aber scheinen sich diese Truppen auf eine Weise zu vermehren und zu bewegen, die Bevölkerung und kurdische Menschenrechtsgruppen alarmiert. Man habe in den vergangenen Tagen „große und ungewöhnliche“ Truppenkonzentrationen in Städten und entlang der iranisch-irakischen Grenze gesehen, teilte das Kurdistan Human Rights Network (KHRN) am Donnerstag in einer Mitteilung mit.
Der iranische Truppenaufmarsch sei der größte seit langem und Teil eines aggressiven Verhaltens gegen die kurdische Bevölkerung, das Anlass zu großer Sorge gebe, so das KHRN. Bilder und Videos, die von der Organisation veröffentlicht wurden, zeigten Militärkonvois mit Panzern und Einheiten der Revolutionsgarde auf dem Weg in das Grenzgebiet. Hintergrund dieser Truppenkonzentration dürfte das Ultimatum der iranischen Staatsführung an die irakische Zentralregierung in Bagdad zur Entwaffnung kurdischer Oppositionsgruppen in der KRI sein, die von Teheran als „terroristisch“ und „separatistisch“ eingestuft werden. Laut Iran hatte sich der Irak Ende August in einem Abkommen beider Länder dazu verpflichtet, die kurdischen Widerstandsgruppen auf eigenem Staatsgebiet bis zum 19. September zu entwaffnen. Sollte die Frist nicht eingehalten werden, werde sich Iran „mit eigenen Maßnahmen“ in diesen Prozess einbringen. Die Islamische Republik wirft kurdischen Parteien und Gruppen in der KRI Anschläge auf ihre Truppen vor und beschuldigt sie, Proteste gegen das Regime unterstützt sowie Demonstrierende mit Waffen ausgerüstet zu haben.
Militärhubschrauber kreisen über Wohngebieten in Bokan | Video: KHRN
Weitere Überwachungskameras an öffentlichen Plätzen installiert
Wie das KHRN weiter meldete, habe Irans Sicherheitsapparat in Städte wie Seqiz, Ûrmiye, Bokan, Mahabad, Sine, Merîwan, Kamyaran, Ciwanro, Kirmaşan, Ilam, Dîwandere, Şahabad und Awdanan zusätzliche Kräfte entsandt. Die Organisation berichtet von tausenden Angehörigen der Aufstandsbekämpfungseinheiten von Polizei und Militär, die in den vergangenen Tagen in Rojhilat stationiert worden sind. Darüber hinaus sei das ohnehin schon dichte Netz an Überwachungskameras in Rojhilat noch undurchdringlicher gemacht worden. An nahezu allen Hauptstraßen und vielen öffentlichen Plätzen habe das Regime zusätzliche Überwachungskameras installiert, was die verschärften Sicherheitsmaßnahmen noch weiter unterstreiche, betonte das KHRN. Auch verschärften die Behörden Irans nochmals die Repression, die ohnehin wie ein Damoklesschwert über der kurdischen Bevölkerung schwebt. Allein seit Anfang dieser Woche seien mindestens fünfzig Aktivistinnen und Aktivisten, die sich im vergangenen Jahr in Rojhilat an den Protesten der „Jin, Jiyan, Azadî“-Bewegung gegen den staatlichen Femizid an Jina Mahsa Amini beteiligten, festgenommen worden – zusätzlich zu hunderten weiteren, die bereits in den Wochen zuvor in sogenannte Präventivhaft kamen.
Hunderte Festnahmen in den vergangenen Wochen
Jina Amini war am 16. September 2022 in Teheran von der iranischen Sittenpolizei zu Tode misshandelt worden. An ihrem Tod hatte sich die von Frauen angeführte „Jin-Jiyan-Azadî“-Revolution entzündet, die bald das ganze Land erfasste und die bislang größte Protestwelle darstellt, welche die Islamische Republik Iran seit ihrer Gründung im Jahr 1979 erlebt hat. Zum Jahrestag befürchtet das Regime ein neues Aufleben der 2022 blutig niedergeschlagenen Straßenproteste. Laut dem KHRN fanden allein in Rojhilat seit Anfang August Festnahmen im mittleren dreistelligen Bereich statt, die Organisation geht jedoch von einer hohen Dunkelziffer aus. Damit wolle die Mullah-Führung vor dem ersten Todestag Aminis Angst unter der Bevölkerung verbreiten und von neuen Protesten abschrecken.
Drohungen gegen Jina Mahsa Aminis Vater
In Mahabad, Bokan, Seqiz und anderen Städten hätten Revolutionsgarde, Geheimdienst und Polizei in den vergangenen Wochen hunderte Personen, die letztes Jahr an Demonstrationen teilgenommen haben, vorgeladen und unter Druck gezwungen, schriftlich zu versichern, am bevorstehenden Todestag von Jina Amini nicht auf die Straße zu gehen. Andernfalls drohten „schwerwiegende Konsequenzen“ wie Haft- oder Geldstrafen. Familien, die bei den Protesten ihre Angehörigen verloren haben, wurden dem KHRN zufolge vom Geheimdienstministerium ebenfalls Konsequenzen angedroht, sollten sie Gedenkzeremonien abhalten. Einige der Betroffenen, mit denen die Menschenrechtsgruppe Interviews führte, sollen Morddrohungen erhalten haben, darunter auch Jina Mahsa Aminis Vater Amjad Amini. Bei den Protesten gegen die Tötung seiner Tochter waren im vergangenen Jahr mehr als 530 Menschen von iranischen Regimekräften getötet worden, tausende verletzt und zehntausende festgenommen. Mindestens sieben Demonstranten wurden wegen ihrer Beteiligung an dem Volksaufstand hingerichtet, etlichen weiteren droht die Exekution.