In der vergangenen Woche haben Menschen in aller Welt zehn Jahre Autonomie und Hoffnung in Nord- und Ostsyrien gefeiert, aber es waren auch zehn Jahre intensiven Drucks von allen Seiten und heftiger militärischer Verteidigung. Die AANES (Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien) musste ihre Strukturen und Institutionen in einer Situation des unerbittlichen Kampfes aufbauen. In einem auf dem Onlineportal Medya News erschienenen Interview von Sarah Glynn erläutert der Arzt Dr. Michael Wilk, was dies für die Entwicklung und die Praxis der Gesundheitsversorgung bedeutet.
Michael Wilk ist politischer Aktivist und Schriftsteller sowie praktizierender Arzt in Deutschland und hat seine medizinischen Fähigkeiten eingesetzt, um Menschen dort zu unterstützen, wo sie am dringendsten gebraucht werden. Seit 2014 hat er in Nordsyrien die Kampfgebiete und die Lager für Binnenvertriebene besucht und eng mit Hevya Sor a Kurd, dem kurdischen Roten Halbmond, zusammengearbeitet.
Nord- und Ostsyrien musste während eines Jahrzehnts des Krieges und der Blockade versuchen, eine grundlegende Infrastruktur aufzubauen und zu erhalten. Können Sie beschreiben, wie sich dies auf die medizinische Versorgung ausgewirkt hat – sowohl auf die Ausrüstung als auch auf das Personal, und zwar sowohl in den Städten als auch in den Lagern für Binnenvertriebene?
Nach dem weitgehenden Rückzug des Assad-Regimes aus dem Norden Syriens vor zehn Jahren ist die Gesundheitsversorgung Aufgabe der Selbstverwaltung der multiethnischen Region Rojava [jetzt offiziell als Nord- und Ostsyrien bekannt]. Diese Selbstverwaltung wird an der Basis gewählt und vertritt nicht nur Männer und Frauen gleichberechtigt, sondern auch die aramäische, assyrische, ezidische und arabische Bevölkerung, die hier neben den Kurd:innen lebt. Die auf basisdemokratischen Prinzipien und der Gleichberechtigung von Männern und Frauen beruhenden Praktiken unterscheiden sich diametral von den autoritären Strukturen des Assad-Regimes und werden von den eigenen bewaffneten Einheiten der Region verteidigt. Das Assad-Regime ist nur am Rande oder symbolisch [am Gesundheitswesen] beteiligt, wobei einige ehemals staatliche Krankenhäuser gelegentlich Gehälter aus Damaskus zahlen. De facto liegt die Versorgung von schätzungsweise vier Millionen Menschen in Rojava in den Händen der gesundheitlichen Selbstverwaltung. Abgesehen von der autoritären, zentralistischen Politik des Assad-Regimes war die Gesundheitsversorgung in Syrien im internationalen Vergleich bei weitem nicht die schlechteste. Nach der jahrelangen Konfrontation mit dem IS, der Zerstörung zahlreicher Krankenhäuser, der Flucht oder dem Tod vieler medizinischer Fachkräfte, den Embargobedingungen und vor allem den wiederholten militärischen Invasionen der Türkei ist die Gesundheitsversorgung zu einer großen und komplexen Herausforderung geworden. Dennoch ist es unter widrigsten Umständen gelungen, eine große Zahl von Krankenhäusern, Ambulanzen und Pflegeeinrichtungen wieder aufzubauen und zu etablieren. Die medizinische Versorgung ist für die ärmere und bedürftigste Bevölkerung kostenlos, doch können unter den derzeitigen Bedingungen spezielle Eingriffe und Therapien nicht oder nur schwer durchgeführt werden, zum Beispiel komplexe neurochirurgische Eingriffe oder Chemotherapie bei Tumoren. Nicht nur Kriegsopfer und Verletzte müssen versorgt werden, sondern auch die normalen Krankheiten einer Millionenbevölkerung. Nach wie vor herrscht ein eklatanter Personalmangel, weil viele Ärztinnen und Ärzte sowie qualifiziertes Pflegepersonal fehlen. Viele wurden getötet oder sind mit ihren Familien aus der bedrohlichen Situation geflohen. Die kriegsbedingten Probleme bleiben immens.
Wie sind die Gesundheitsdienste organisiert und wie funktionieren sie? Was ist die Rolle von Heyva Sor? Sind die basisdemokratischen Strukturen an der Entwicklung und dem Betrieb der Angebote beteiligt? Erhält die medizinische Versorgung in Nord- und Ostsyrien Hilfe von außen – von Regierungen oder NGOs?
Neben der gesundheitlichen Selbstverwaltung ist eine weitere wichtige Säule der Versorgung die NGO Kurdischer Roter Halbmond (Heyva Sor a Kurd), die ich seit vielen Jahren unterstütze. Anfang 2012 war es noch eine kleine Organisation mit ein paar engagierten Menschen, jetzt arbeiten dort rund 2000 Menschen. Sie arbeitet eng mit der Selbstverwaltung zusammen und betreibt eigene Notfallambulanzen, Apotheken und Krankenhäuser und stellt zum Beispiel auch die medizinische Versorgung in den vielen Geflüchteten-/Vertriebenenlagern sicher. Heyva Sor arbeitet auch unter gefährlichen Bedingungen im Lager al-Hol, wo Familien des zerschlagenen IS inhaftiert sind und Unruhen unter fanatischen IS-Anhänger:innen an der Tagesordnung sind. Heyva Sor ist eine wichtige Schnittstelle für internationale Unterstützung durch Material, Medikamente und Geld. Wichtige internationale Nichtregierungsorganisationen überweisen Hilfsgüter über den Kurdischen Roten Halbmond. Auch Mittel der Europäischen Union fließen hierher, denn eine offizielle Zusammenarbeit zwischen der EU und der Selbstverwaltung wird gemieden. Diese Zusammenarbeit wird vermieden, weil die EU-Mitglieder ihre ,NATO-Partnerin Türkei' nicht verärgern wollen, die derzeit mit einer neuen Invasion in Rojava droht. Diese Invasionen und die zunehmende Bombardierung von Menschen und Einrichtungen im Nordosten Syriens und im Nordirak durch die Türkei stellen derzeit die größte menschliche und gesundheitliche Belastung für die Bevölkerung in Rojava dar.
Gibt es eine Verbindung mit Damaskus?
Es gibt eine Verbindung zu Damaskus, auch auf allgemeiner politischer Ebene, denn es wird kein eigenes Staatsgebiet angestrebt, sondern Autonomie und Selbstverwaltung. Diese Autonomie ist tatsächlich gegeben, auch wenn einige medizinische Lieferungen über das von Assad kontrollierte Gebiet erfolgen bzw. dort eingekauft und importiert werden, und auch Menschen gelegentlich in Damaskus behandelt werden. Das Gleiche gilt für die konservative kurdische Regionalregierung im Nordirak. Die politischen Beziehungen zur irakischen Region Kurdistan, die von Familienclans kontrolliert wird, sind schwierig und durch wiederholte Grenzschließungen gekennzeichnet. Dennoch finden auch auf dieser Seite Importe sowie gelegentliche Transfers von Patienten – zum Beispiel nach Hewlêr (Erbil) – statt.
Welche Ausbildung gibt es für diejenigen, die als Ärzt:innen, Sanitäter:innen oder in der medizinischen Grundversorgung arbeiten wollen?
Die Situation der Menschen, insbesondere der Kinder und Jugendlichen, ist seit Jahren durch fehlende Ausbildungsmöglichkeiten belastet. Seit einigen Jahren hat sich die Situation aber auch hier verbessert, dank der großen Anstrengungen der Autonomieverwaltung. Neben der wichtigen Grundlage eines funktionierenden Schulwesens befinden sich Universitätsakademien im Aufbau, und auch eine medizinische Ausbildung gibt es hier. Inwieweit diese zu einem international anerkannten Abschluss führen kann, ist unter den genannten Umständen noch nicht absehbar.
Welche Hilfe gibt es für Kriegsverletzte und durch den Krieg und das Leben unter dem IS traumatisierte Menschen, insbesondere Kinder?
Die Zahl der getöteten und schwer verletzten Menschen, darunter viele Kinder, ist hoch. Es wird geschätzt, dass allein im Kampf gegen den IS mehr als 20.000 (körperlich) Verletzte schwer verwundet wurden. Die Zahl der geschädigten Menschen, die prothetische und physiotherapeutische Hilfe benötigen, geht in die Tausende. Vor kurzem wurde unter der Leitung von Heyva Sor ein Prothesenzentrum mit Physiotherapie in Betrieb genommen: ein Anfang zumindest. Die Zahl der psychisch traumatisierten Menschen ist jedoch viel höher. Vor dem Hintergrund des tobenden Krieges konnte man sich lange Zeit nicht ausreichend um dieses Problem kümmern. Es ist eine immense Aufgabe mit größter Bedeutung. Ich bin Notarzt und Psychotherapeut und muss immer wieder feststellen, dass ein psychisches Trauma ein Leben genauso zerstören kann wie eine Granate oder eine Bombe. Seit einigen Jahren laufen Projekte, auch mit der internationalen Unterstützung von Traumatherapeut:innen, die sich dieser wichtigen Aufgabe widmen. Aber es gibt noch unglaublich viel zu tun, zumal die Traumata, die Folgen von Flucht und Vertreibung, durch die türkischen Anschläge noch verstärkt werden.
Wie ist die aktuelle Situation in Bezug auf die Corona-Pandemie und die Behandlung sowie den Zugang zu Impfungen?
Eine Pandemie und das damit verbundene internationale Vorgehen ist immer auch ein Spiegel der internationalen Macht und Herrschaft. Während meines Aufenthalts in einer Covid-Notfallklinik in der Nähe von Hesekê (Haseke) im Frühjahr 2021 musste ich erleben, dass ich die einzige geimpfte Person war. Der Impfstoff kam extrem spät und in geringen Mengen in Rojava an. Die Folgen waren damals erschreckend. Die für mitteleuropäische Verhältnisse unzureichende Intensivmedizin und der fehlende Impfstoff führten zu vielen Todesfällen – Menschen, die unter anderen Umständen nicht hätten sterben müssen.
Und wie können die Leser:innen dieses Interviews helfen?
Es ist nicht unbedingt notwendig, selbst nach Rojava zu gehen und vor Ort zu helfen. Wenn jemand das tun will, sollte das gut überlegt und mit der lokalen Selbstverwaltung abgesprochen sein. Was aber dringend nötig und hilfreich ist, ist gesellschaftlicher Druck auf die politische Ebene in Europa. Die Menschen in Rojava kämpfen nicht nur für eine andere, basisdemokratische Gesellschaft, sie haben auch unter großen Opfern den Terror des IS besiegt. Dafür gebührt ihnen Dank, Anerkennung und Hilfe beim Wiederaufbau ihrer Gesellschaft.
In Wirklichkeit sind sie jedoch verraten worden. Sie wurden den Angriffen des autoritären Erdoğan-Regimes ausgeliefert und sind dem Terror von Luftangriffen und Invasionen ausgesetzt. Das muss aufhören. Dazu sind alle gefragt, mit Protesten und direkten Aktionen Druck auszuüben und Öffentlichkeit zu schaffen. Und natürlich kann an Organisationen und NGOs, die wissen, was in Rojava fehlt, gespendet werden.