Gestern Efrîn, heute Avaşîn

Bei ihren Angriffen auf die südkurdischen Regionen Zap, Metîna und Avaşîn – allesamt entlang der türkisch-irakischen Grenze gelegen – verfolgt die türkische Armee eine Strategie, die wir aus Rojava kennen.

Seit 24 Tagen herrscht Krieg in Südkurdistan. Krieg, der Besatzung und Völkermord zum Ziel hat. Besetzen möchte das türkische AKP/MHP-Regime Südkurdistan und an der kurdischen Bevölkerung im Zuge dessen einen Völkermord verüben. Kein schlimmeres Verbrechen kennt die Menschheit, als die Lebensgrundlagen und die Existenz ganzer Völker zu zerstören. Doch genau dessen machen sich Erdogan und seine Unterstützer heute schuldig.

Die türkische Strategie

Bei ihren Angriffen auf die südkurdischen Regionen Zap, Metîna und Avaşîn – allesamt entlang der türkisch-irakischen Grenze gelegen – verfolgt die türkische Armee eine Strategie, die wir aus Rojava kennen. In Efrîn (Anfang 2018), Girê Spî und Serêkaniyeê (Oktober 2019) führte die Türkei einen rücksichtslosen und menschenverachtenden Besatzungskrieg. Rücksichtslos, weil chemische Waffen zum Einsatz kamen. Und menschenverachtend, weil die Türkei nicht davor zurückschreckte, in einem offenen Bündnis mit islamistischen Milizen – viele davon ehemalige Söldner des Islamischen Staates (IS) – zu kämpfen. Chemische Waffen und Islamisten wurden eingesetzt, um die lokale Bevölkerung praktisch vollständig zu vertreiben, deren Besitz zu beschlagnahmen und historische Stätten zu zerstören. In Efrîn, Serêkaniyê und Girê Spî – wo vor wenigen Jahren noch hunderttausende Kurdinnen und Kurden lebten – wurden zehntausende Islamisten aus der ganzen Welt samt ihren Familien angesiedelt.

Ansiedlung von Islamisten in Kêste?

Genau dieselbe Strategie verfolgt das Erdoğan-Regime aktuell bei seinen Angriffen in Südkurdistan. Bereits Ende April, also nur wenige Tage nach dem Beginn der Angriffe, gelangten Berichte über den Einsatz von Giftgas an die Öffentlichkeit. Kurz darauf, am 6. Mai, veröffentlichten die Volksverteidigungskräfte (HPG) die Namen von sieben ihrer Mitglieder, die durch den Einsatz von Giftgas in Avaşîn getötet wurden. Türkische Faschisten verbreiteten zu dem Zeitpunkt bereits auf Twitter Fotos und Videos der sieben getöteten Guerillakämpfer, auf denen zu erkennen ist, dass sie keinerlei Schusswunden oder andersartige äußere Verletzungen haben. Auch der Einsatz islamistischer Söldner ist mittlerweile offiziell bestätigt worden. In einem Interview am 14. Mai erklärte Murat Karayılan, Oberkommandierender des zentralen HPG-Hauptquartiers, neben türkischen Truppen würden auch Islamisten in Südkurdistan zum Einsatz kommen. Aktuelle Berichte aus der Region Metîna besagen zudem, dass laut türkischer Pläne die Ansiedlung dieser Islamisten samt ihren Familien in dem noch umkämpften Dorf Kêste vorgesehen ist. Diese Information ist besonders brisant, da in dem Dorf zahlreiche ezidische Familien leben, die 2014 vor den Angriffen des IS auf Şengal geflohen waren. Während es aufgrund der ständigen türkischen Bombardements und der Straßencheckpoints der südkurdischen PDK (Demokratische Partei Kurdistans) für internationale Journalisten und Beobachter bisher schwer war, sich ein eigenes Bild von der Lage zu machen, zeigen die Berichte von vor Ort, dass das AKP/MHP-Regime offensichtlich bereit ist, jegliche moralische und rechtliche Prinzipien zu brechen, um sein Ziel zu erreichen.

Bis zu 40 Kilometer tiefe Besatzungszone

Das Ziel der türkischen Angriffe geht weit über die grenznah gelegenen Regionen Avaşîn, Zap und Metîna hinaus. Sollte es der türkischen Armee und ihrer islamistischen Verbündeten gelingen, die Guerilla von dort zu vertreiben, wird sie ihre Angriffe sehr schnell auf die tief auf südkurdischem Boden liegenden Regionen Qendîl und Şengal richten. Erdoğan hat diese Drohung erst vor wenigen Tagen wiederholt. Der Plan des türkischen Regimes sieht also vor, von Efrîn im Nordwesten Syriens bis nach Xakurke im Nordosten des Iraks eine bis zu 40 Kilometer tiefe Besatzungszone einzurichten. Diese Besatzung soll dann in Südkurdistan bis nach Mosul und Kerkûk ausgeweitet werden. Damit hätte das AKP/MHP-Regime nicht nur sein Ziel erreicht, die kurdische Bevölkerung in diesem riesigen Gebiet einem Völkermord auszusetzen, sondern auch ölreiche Regionen in Syrien und dem Irak in das türkische Staatsgebiet zu integrieren.

London, Berlin, Paris und Washington: Einen Völkermord verhindern

Ohne internationale Unterstützung könnten Erdoğan und sein Regime niemals so offen und dauerhaft jegliches internationale Recht brechen. Der Schlüssel für das Ende der türkischen Angriffe auf Südkurdistan liegt damit auch in den Hauptstädten Europas und der USA. Für die Menschen in Großbritannien stellt sich die Frage, was ihre Regierung dem türkischen Verteidigungsminister Hulusi Akar versprochen hat, als er vom 7. bis 9. April dieses Jahres in London war. Genauso lohnt es sich in Deutschland Druck aufzubauen, damit die Bundesregierung ihre Unterstützung für die türkische Besatzung Südkurdistans offenlegt. Was also wurde dem türkischen Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu zugesagt, als er am 6. Mai in Berlin war? US-Präsident Joe Biden muss gezwungen werden offen zu legen, warum der türkische Angriff auf Metîna, Zap und Avaşîn nur Stunden nach seinem Telefonat mit Erdoğan am 23. April begann. Zu guter Letzt wird es für die Bevölkerung Südkurdistans auch sehr hilfreich sein, wenn der französische Präsident Emmanuel Macron zugeben muss, was er Erdoğan am 2. März während eines Videotelefonats alles an Unterstützung angeboten hat. Allein die diplomatischen Gespräche der letzten Monate zeigen damit, wie massiv die Mitverantwortung Europas und der USA für die türkische Besatzungs- und Völkermordpolitik in Kurdistan ist. Wenn die Gesellschaften in Frankreich, England, Deutschland und den USA ihre Solidarität mit den Kurdinnen und Kurden praktisch werden lassen, wird die gefährlich Politik Erdoğans in Südkurdistan ihr endgültiges Ende finden.