Eine Million Sprengsätze: Minenfeld Kurdistan

Nach Angaben der Initiative für eine Türkei ohne Minen (Mayınsız bir Türkiye Girişimi) schlummern in den kurdischen Regionen noch rund eine Million Minen – gut 100.000 davon im ländlichen Hinterland.

Landminen gehören zu den grausamsten Waffen, die Menschen je erfunden haben. Die Türkei gehört zu den zehn am stärksten von Minen betroffenen Ländern der Welt. Nach Angaben der Initiative für eine Türkei ohne Minen (Mayınsız bir Türkiye Girişimi) schlummern in den kurdischen Regionen noch rund eine Million Minen – gut 100.000 davon im ländlichen Hinterland.

Die Türkei hat eine Fläche von 783.652 km². Die von Minen kontaminierte Fläche beträgt nach Schätzungen der deutschen Hilfsorganisation DEMIRA (Deutsche Minenräumer e.V.) mindestens 214,74 km². Verlegt wurden die Minen von den Behörden selbst, um die Landesgrenzen zu schützen. Während die ersten Minen zwischen 1956 und 1959 an den Grenzen zu Syrien, Armenien, dem Iran und dem Irak verlegt wurden, um Schmuggler vom illegalen Grenzübertritt abzuschrecken, kamen zwischen 1984 und 1999 an der Grenze zu Syrien immer wieder neue Minenfelder hinzu, um die Guerilla der PKK daran zu hindern, ihre Ausbildungslager auf syrischer Seite zu erreichen.

Minenfreie Türkei 2022?

Die Grenze der Türkei zu Syrien ist rund 900 Kilometer lang. Alleine dort wurden in den 1950er Jahren rund 650.000 Landminen verlegt. Die kontaminierte Fläche im türkisch-syrischen Grenzgebiet erstreckt sich über eine Fläche von rund 180 Quadratkilometern – das entspricht dem Stadtgebiet von Celle. Bis 2014 hätte die Türkei die tödlichen Sprengsätze im Grenzgebiet räumen müssen. Das sieht die Ottawa-Konvention über das Verbot von Antipersonenminen vor, zu der sich die Türkei 2003 mit ihrer Unterschrift verpflichtete. Dieses Ziel wurde von Ankara jedoch nicht erreicht, weshalb die Türkei eine Fristverlängerung für die Minenräumung beantragte und auch zugesprochen bekam. Nach Regierungsangaben sollen alle verminten Gebiete bis zum Jahr 2022 vollständig geräumt sein.

Die Ottawa-Konvention verbietet nicht nur den Einsatz, die Produktion und Weitergabe von Antipersonenminen, sondern schreibt außerdem vor, Lagerbestände innerhalb von vier Jahren zu vernichten. Die Türkei hingegen hat die Zerstörung der Lagerbestände erst 2011 abgeschlossen und somit die Vertragsbedingungen verletzt. Das bestätigt auch Muteber Öğreten, Generalkoordinatorin der Initiative für eine Türkei ohne Minen, die angibt, dass Ankaras Lagerbestände bis 2011 mehr als drei Millionen Minen umfassten, viele davon aus der Bundesrepublik. Die Initiative hatte vor zwei Wochen zu einer Tagung mit dem Titel „Das Landminenproblem in der Türkei: Öffentliches Bewusstsein und die Rolle der Medien“  in die nordkurdische Großstadt Amed (Diyarbakir) eingeladen.

Öğreten erinnerte daran, dass die PKK als bewaffnete nichtstaatliche Akteurin im Jahr 2006 den „Genfer Appell“ unterzeichnet hat, der den Einsatz von Antipersonenminen verbietet, so wie es die Ottawa-Konvention für Staaten vorsieht. Nach Unterzeichnung der Verpflichtungserklärung unterstützte die PKK damals die Vernichtung von 770 Antipersonenminen und mehr als 2.500 anderen Sprengsätzen. Den „Genfer Appell“ initiiert hatte die Schweizer Nichtregierungsorganisation Geneva Call, die sich dafür einsetzt, dass internationale humanitäre Normen bei bewaffneten Konflikten und anderen Situationen von Gewalt, insbesondere diejenigen zum Schutz der Zivilbevölkerung, von den bewaffneten nichtstaatlichen Akteuren (BNSA) respektiert werden. Mit der PKK und den Volksverteidigungskräften HPG führt Geneva Call seit 2001 einen Dialog zum Verbot von Personenminen. Seit 2008 finden zudem Dialoge zum Kinderschutz, zu Geschlechterfragen und der Einhaltung humanitärer Normen im Allgemeinen statt. Nach Angaben von Muteber Öğreten werde die Einhaltung der durch die PKK/HPG unterzeichneten Verpflichtungserklärungen direkt von Geneva Call überwacht. Dies sei zwar schwierig, da die Organisation nicht über einen Zugang zur Türkei verfügt, doch sei ein spezielles Überwachungsverfahren eingerichtet worden, um die Zugangsbeschränkung zu umgehen.

Minenräumprojekte in der Türkei

Die Fristverlängerung zur Räumung der Minenfelder im Rahmen der Ottawa-Konvention wurde der Türkei im März 2014 zugesprochen. Offiziell hieß es, dass es aufgrund des syrischen Bürgerkrieges nicht möglich sei, die gesetzte Frist einzuhalten. Fachleute kalkulierten, dass es mindestens fünf Jahre dauern wird, die Minenfelder zu räumen. Das Hauptproblem besteht allerdings weiterhin darin, dass entsprechende Karten zu den Positionen der Landminen meist als unzuverlässig eingestuft werden, obwohl die kontaminierten Gebiete von den Streitkräften gekennzeichnet worden sein sollen. Zwar hatte unter anderem auch DEMIRA vor einigen Jahren in Zusammenarbeit mit lokalen Behörden eine Erkundung in der Türkei durchgeführt, um die Grenzen der verminten Gebiete exakter zu bestimmen, wodurch auch ein Plan für Minenräumprojekte entwickelt wurde. Trotzdem sei Fakt, dass die meisten Minenpläne erst gar nicht aufbewahrt wurden, so Öğreten. Außerdem können sich viele Minen in der Zwischenzeit bewegt haben - etwa durch Überschwemmungen und Erdrutsche. Die türkische Regierung hatte nach Unterzeichnung der Ottawa-Konvention die Armee mit der Räumung der Minenfelder beauftragt. Die stellte jedoch sehr schnell fest, dass sie weder über geeignetes Gerät noch über genug Experten für diese Aufgabe verfügt. Erst im Jahr 2016 kündigte der damalige Verteidigungsminister İsmet Yılmaz an, dass ein Minenräumungsprogramm starten werde. Zuvor hatte die Regierung jahrelang nach einem Privatunternehmen gesucht, das die tödlichen Sprengsätze beseitigt. Ein entsprechender Gesetzesentwurf, der dem Parlament von der AKP vorgelegt wurde und vorsah, dass ein Privatunternehmen die Minen auf eigene Kosten räumen und im Gegenzug bis zum Jahr 2058 die Nutzungsrechte des betroffenen Landes erhalten sollte, war auf Widerstand gestoßen.

Seit April 2016 sollen die staatlich gelenkten Entminungsarbeiten laufen. Nach Angaben von Öğreten wurde die kontaminierte Region entlang der Ostgrenzen zwischen Reşqelas (Iğdır) und Colemêrg (Hakkari) in drei Gebiete unterteilt. Angefangen habe man mit der Räumung in Reşqelas. Entlang der Grenzlinie komme es laut Öğreten seltener zu Explosionen, wonach im ländlichen Hinterland, insbesondere in Gebieten in der Nähe von Militärstützpunkten oder Wachen, die Zahlen der Opfer von Landminen oder Sprengsätzen viel höher sei. Aus diesem Grund fordert die Initiative, dass zunächst kontaminierte Flächen im Hinterland geräumt werden. Offiziellen Aufzeichnungen zufolge wurden in der Türkei zwischen 1984 und 2009 über 6.300 Menschen Opfer von Minen oder Munitionsüberresten. Das sind durchschnittlich 252 Menschen pro Jahr, die getötet oder verletzt wurden. Zum Vergleich: 2016 wurden laut dem „Landminenmonitor“ der Hilfsorganisation Handicap International weltweit mindestens 8605 Menschen Opfer von Minen und deren explosiven Resten. Da viele Unfälle jedoch nicht berichtet werden, dürfte die Dunkelziffer weitaus höher liegen, insbesondere in den Konfliktregionen.