Der-Mez: Die psychologische Initiative Mesopotamiens

Nach Einschätzung der Psychologin Fahriye Cengiz von der Initiative der Psycholog*innen Mesopotamiens ist die Hälfte der Bevölkerung in der Türkei direkt vom Krieg betroffen.

In der Initiative der Psycholog*innen Mesopotamiens (Derûnnasên Mezopotamyayê, Der-Mez) haben sich Aktivist*innen mit einer psychologischen Ausbildung zusammengeschlossen. Die Initiative wurde vor zwei Jahren gegründet.

Für ANF hat Oktay Candemir mit der Psychologin Fahriye Cengiz von der Initiative Der-Mez in Wan gesprochen.

Die kurdische Frage hat viele Dimensionen. Neben politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Aspekten gibt es auch den psychologischen Aspekt. Ein wichtiger Bereich davon sind die traumatisierenden Erfahrungen der Menschen in Kurdistan. Was bedeutet Traumatisierung?

In der Psychologie wird ein Trauma als eine starke psychische Erschütterung definiert, die durch ein unerwartetes gefährliches Erlebnis hervorgerufen wird. Dabei kann es sich um ein von Menschenhand verursachtes Erlebnis wie zum Beispiel eine Gewalterfahrung handeln oder um Naturkatastrophen. Von Menschenhand verursachte Traumata sind meistens schwieriger zu bewältigen, weil es dabei um ein Täter-Opfer-Verhältnis geht. Das Opfer hat oft Schwierigkeiten, von dem Erlebten zu berichten, weil die Gesellschaft dazu schweigt oder auf der Täterseite steht. Außerdem kann es nicht darlegen, warum gerade ihm das Erlebte zugefügt worden ist. Diese und ähnliche Faktoren führen zu einer anhaltenden Traumatisierung. Handelt es sich bei dem traumatisierenden Erlebnis beispielsweise um eine kriegerische Auseinandersetzung, die weiter andauert, ist eine psychische Genesung kaum möglich.

Menschen, die ständig Tod und Gewalt ausgesetzt sind, sich hilflos von Vernichtung bedroht fühlen und ohne die Hoffnung auf Rettung den Tod oder die Verletzung ihnen nahestehender Personen miterleben müssen, zeigen mit der Zeit Symptome wie Gefühllosigkeit, Verlust des Erinnerungsvermögens oder der Sprachkompetenz, affektive Gefühlsausbrüche oder eine seelische Erstarrung.

Dauern diese Erfahrungen länger an, verlieren die Betroffenen auch jegliche Zukunftserwartungen. Wer ständig Angst vor dem Tod hat, kann kein neues Leben aufbauen und Zukunftspläne schmieden. An Krieg und Gewalt kann man sich nicht gewöhnen. Psychische Verletzungen sind dabei ebenso unausweichlich wie physische.

Psychische Traumatisierungen durch Kriegserfahrungen werden insbesondere in lang andauernden Konflikten wie in Nordirland, dem Baskenland oder Palästina thematisiert. Wie verhält es sich in den kurdischen Gebieten?

Jede gewalttätige Auseinandersetzung und jeder Krieg sind traumatisierend und wirken sich überall ähnlich aus. Man muss jedoch auch den sozialen Zusammenhang beachten. Wichtig ist hierbei das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft. In unserem Land findet ein Bürgerkrieg statt. Ein innerer Krieg ist anders als ein Krieg gegen ein anderes Land. Die Hälfte der Gesellschaft ist direkt von diesem Krieg betroffen, die andere Hälfte wird dazu gezwungen, tatenlos zuzusehen oder Kriegspartei zu sein. Die direkt Betroffenen finden keine Ausdrucksmöglichkeit und es entsteht ein Gefühl der Vereinsamung, Verlassenheit und Hilflosigkeit.

Bei sexuellen Angriffen auf Frauen wird normalerweise über das Opfer gesprochen. Der Täter bleibt identitätslos. Der Fokus richtet sich auf das Verhalten oder die Kleidung des Opfers. Damit wird das Verbrechen legitimiert. Genau dasselbe findet in kriegerischen Auseinandersetzungen statt. Die Täter im Krieg haben keine Identität, über die Opfer werden jedoch Informationen gesammelt, um die Tat zu legitimieren. Den Opfern wird damit die Möglichkeit entzogen, ihre Rechte einzufordern.

Sie haben in den Städten gearbeitet, in denen der Staat mit grenzenloser Gewalt gegen den Kampf für Selbstbestimmung vorgegangen ist. Was sind Ihre Eindrücke?

Ich habe als Psychologin sowohl zu dem Thema Gewalt gegen Frauen und Kinder als auch in Gebieten gewalttätiger Auseinandersetzungen gearbeitet. Besonders beeindruckt hat mich dabei die Ähnlichkeit beider Themenfelder. Ich habe mich damit auseinandergesetzt, wie Menschen, also Männer, derartig schlecht sein können. Das gleiche Gefühl habe ich bei der Arbeit in den Konfliktgebieten gehabt. Ich habe mich gefragt, wie es möglich sein kann, dass Menschen anderen Menschen so etwas antun, obwohl sie sich vorher gekannt haben, sich ins Gesicht gesehen haben, bei ihnen einkaufen waren, in ihren Kaffeehäusern gesessen und gespielt oder vielleicht sogar bei ihnen zu Hause zu Gast waren und gegessen haben.

Können Sie etwas über die Arbeit von Der-Mez erzählen?

Der-Mez ist eine Initiative kurdischsprachiger Psycholog*innen. Wir hatten das Bedürfnis, uns als Menschen zu organisieren, die aus den Konfliktgebieten kommen und Psychologie studiert haben oder noch studieren. Für uns ist die Traumaarbeit kein Akt der Solidarität, sondern eine Notwendigkeit. Wir alle haben Angehörige, die von diesen Konflikten betroffen sind.

Wir haben psychosoziale Beratung in Städten wie Cîzre, Silopî und Nisêbîn angeboten und mit Kindern, Frauen und Gruppen gearbeitet. Während der Kämpfe in Sûr haben wir gemeinsam mit den dort ansässigen Einrichtungen Veranstaltungen für die betroffenen Kinder organisiert und Spieltherapiemethoden angewandt. Zusammen mit den Stadtverwaltungen haben wir an einer Feststellung der bei Frauen und Kindern entstandenen seelischen Schäden gearbeitet.

Wir haben auch Workshops für Studierende angeboten, in denen es darum ging, jenseits der psychologischen Lehre an den Universitäten ein Bewusstsein über die Gesellschaftsstruktur und die gesellschaftliche Dynamik zu vermitteln. Wir haben dabei die Frage behandelt, wie eine therapeutische oder psychologische Arbeit demokratisch und auf Augenhöhe gestaltet werden kann.

Unsere Arbeit ist in letzter Zeit ins Stocken geraten, weil die öffentlichen Einrichtungen, mit denen wir zusammengearbeitet haben, verboten oder von den Zwangsverwaltern geschlossen worden sind. Trotzdem versuchen wir, unsere Arbeit fortzusetzen.