Das Paradigma Öcalans und die Systemfrage

Die nepotistische Politik der PDK-Regierung in Südkurdistan hat die Region in eine Sackgasse geführt. Daher ist eine Systemdebatte dringend notwendig.

Die Bedingungen für die Freiheit aller vier Teile Kurdistans stehen auf der Tagesordnung der Weltpolitik. Für die Hegemonialmächte dreht sich alles um die Frage, wie sie ihre mörderische Politik fortsetzen können, während die Kräfte, die für Freiheit kämpfen, weltweit die Errungenschaften und die Auseinandersetzungen um diese verfolgen.

Während in allen Teilen Kurdistans eine Systemdebatte stattfindet und der zentralistische Nationalstaat in Frage gestellt wird, ist das politische Leben Südkurdistans in vielen Bereichen gelähmt. Vor einer Weile gab es hier die Diskussion um Zentralismus. Diese Debatte wurde von der PKK in Bezug auf die befreite Region Şengal begonnen. Die PKK zog im Frühjahr 2018 aus dem Şengal ab und überließ es den Menschen dort, über ihre Autonomie zu entscheiden. Sie unterstützte die ezidische Bevölkerung in ihrer Forderung nach einer autonomen Selbstverwaltung in einem dezentralen Irak. Diese Forderung führte insbesondere von Seiten der südkurdischen Regierungspartei PDK zu reflexhaften Gegenreaktionen. Obwohl die PDK-Peschmerga vor den Augen der Welt die ezidische Bevölkerung beim IS-Überfall auf Şengal im Stich gelassen hatten, erdreistete sich die PDK darauf zu bestehen, Şengal der Autonomieregion Kurdistan zuzuschlagen.

Das zeigt einmal mehr, dass die Systemdebatte in Südkurdistan von großer Bedeutung ist, wichtiger noch als die über die Struktur des Iraks. Die PDK-Regierung versucht sich unantastbar zu machen. Dabei müsste ihr doch klar sein, dass nichts, das von Menschen geschaffen wurde, unantastbar ist und ewig währt. Es ist wichtig, dass in Südkurdistan eine Debatte zum Monismus in der eigenen Region geführt wird und die südkurdische Bevölkerung darüber reflektiert. Zentralismus zu diskutieren bedeutet mehr, als eine Debatte über die irakische Verfassung zu führen. Eine allein juristische Diskussion dieser entscheidenden gesellschaftlichen, politischen und historischen Frage würde nicht weniger bedeuten, die kurdische Frage von ihrer Geschichte und die kurdische Gesellschaft von ihrem historischen Widerstand zu trennen. Deshalb muss das Problem des Zentralismus in all diesen Dimensionen betrachtet werden. Ist das Zentrum im Irak, hat Südkurdistan eine Regionalregierung? Inwiefern ist diese ans Zentrum angebunden? Auf diese Fragen müssen Antworten gesucht werden.

Die südkurdische Regionalregierung in Hewlêr (Erbil) versucht durch die PDK, den gesamten Süden zu kontrollieren. Das System in Südkurdistan widerspricht der historischen Entwicklung des kurdischen Volkes und seinen gewachsenen demokratischen Werten. Es gibt dort keine Demokratie. Es wird als ausreichend betrachtet, die über lange Jahre geächtete kurdische Sprache zu sprechen und einige Institutionen zu beherrschen. Ein kleiner Teil der Bevölkerung wird mit solch einer Rhetorik beschwichtigt. Der große Teil hingegen wird mit ideologischen Mitteln, mit Gewaltmitteln und dem faulen Glücksversprechen der kapitalistischen Moderne ruhiggestellt. Der Zwang und die Ausweglosigkeit zeigen sich in den außergerichtlichen Verhaftungen, den verdächtigen Todesfällen und der jüngsten Zunahme von Selbstmorden.

An Nepotismus orientierte Politik bringt weder nationalen noch historischen Fortschritt

Warum sollte eine Person, wenn sie die Möglichkeit zum Leben hat und ihre Probleme mit der Gesellschaft und dem System lösen kann, sich selbst töten? In Südkurdistan liegt die Machtkonzentration in der Hand einer Familie. Die Bevölkerung hat keine Repräsentation und nicht einmal innerhalb der Regierung gibt es einen gemeinsamen politischen Willen. Bürgerinnen und Bürger spielen keine Rolle bei den Entscheidungen der Regierung und haben auch keine Erwartungen mehr an sie: es gibt nichts mehr, was die Bevölkerung mit dem System verbindet, außer ihrem Monatslohn. Entscheidungen bis hin zur Aufhebung der Immunität der Abgeordneten werden wie in der Türkei von der Mehrheitspartei getroffen und der Wille der Minderheiten wird missachtet.

Diese Probleme stellen das von der PDK geschaffene System der Regionalregierung grundsätzlich in Frage. Was macht diese Regierung anders als die der Unterdrückerstaaten? Dieselbe monistische Mentalität zeigt sich hier in einem Mikrokosmos, allerdings geht es nicht um Religion oder Nation. Wenn es um die Interessen der herrschenden Familie geht, dann zählen weder nationale, weltanschauliche oder historische Interessen. Diese Lage macht die Menschen wütend und desillusioniert.

Kämpfe in der Familie

Wenn man Kurdistan als Ganzes betrachtet, so versucht die PDK-Regierung den Süden abzutrennen und sich der Verantwortung für ganz Kurdistan zu verweigern. Sie geht sogar noch weiter und benutzt die Frage von Existenz und Freiheit der Kurd*innen in den anderen Teilen Kurdistans als Mittel ihrer Interessenspolitik.

Die Regierung ist von Anfang an von Kämpfen und Machtstreitigkeiten innerhalb der Familie Barzani und von der Konkurrenz zwischen Institutionen geprägt. Aber diese Punkte als Familienprobleme abzuschreiben wäre zu oberflächlich, es handelt sich um ein System, in dem der Starke die Macht erlangt. Das ist ein für den Menschen erbärmliches System.

Demgegenüber entstand in den 70er Jahren, als die PDK ihre große Niederlage erlitt und die Bevölkerung in größter Hoffnungslosigkeit lebte, eine Bewegung, die neue Hoffnungen weckte. Es war die Bewegung um Abdullah Öcalan, die immer mehr wuchs und neue Perspektiven eröffnete. Das Paradigma Abdullah Öcalans dreht sich darum, wie sich die Gesellschaft des Mittleren Ostens selbst organisieren, wie sie selbst Entscheidungen treffen und sich selbst führen kann. Die Gesellschaft muss selbst entscheiden, welches System sie auf welche Weise aufbauen will und wer das System führen wird.

Neue Machtstrukturen zu installieren ändert nicht das System, sondern nur den Besitzer

Wenn Südkurdistan auf einer demokratisch-konföderalen Grundlage nach dem Paradigma der demokratischen Nation aufgebaut würde, dann wäre das mit Sicherheit das ideale System. Denn ein konföderales System, das nicht demokratisch ist, löst keine Probleme. Für eine demokratisch-konföderale Organisierung ist die Selbstverwaltung der Bevölkerung die Grundlage. Die Installation neuer Machtstrukturen über der Bevölkerung ändert nicht das System, sondern nur seinen Besitzer.

Die Systemdiskussion muss jedoch aufrichtig geführt werden. Niemand hat das Recht, das gesellschaftliche Empfinden des kurdischen Volks noch weiter zu verletzen. Das ist der Grundsatz für solche Diskussionen. Darüber hinaus ist es wichtig, die Erfahrungen der Freiheitsbewegung Kurdistans, die ein historisches Bewusstsein und vor allem praktische Erfahrungen besitzt, den Wissensschatz der PKK, KCK und der Völker Nordsyriens zu nutzen. Das gegenwärtige Konzept unter dem Motto „klein aber mein“ stellt einen großen Verlust für alle dar.